Aus der Reihe getanzt

Sie würden sich immer für diese Reihe entscheiden, sagt er, dieses deutsche Geordnetsein, dieses unabgesprochene, aber unbedingte Nacheinander, dieses Ich-komme-vor-dir-dran, weil ich vor dir da war. Sie wollten diese demokratische, scheindemokratische Fügung und Teilbeschattung, sagt er, weil sie sich geborgen fühlten, so etwas wie Gerechtigkeit empfänden oder einfach nur gern der Norm entsprächen. Sie wollten diese Reihe, sagt er, weil sie sich verständigen, den Vordermann hoffieren und die Nachfolgenden abspeisen könnten. Sie brauchten diese Reihe, weil sie Hinnahme ermöglicht – den imageschonenden Verzicht auf nicht Erreichbares, die Schmerzlosigkeit verlorener Träume.
Sehr viel mehr aber lechzten die Ideengeber nach der Reihe, weil ihre Schafe – auf diese Weise sortiert – überschaubarer seien und in Brot gebracht, davon absähen, das Gewollte in Frage zu stellen. Immerhin spürten diese Schafe, dass ein Wille da sei und natürlich dieser Weg, der, so man ihn denn in Reihe durchmesse, Gefahren ausschlie-ße.
In der Reihe, sagt er, empfange man das Geld nach dem Umtausch. In der Reihe warte man Zeitung lesend auf Brötchen, die irgendwann aus dem Backofen stürzten, auf Restkarten zur Fußball-WM. Schlangesteher warteten, sagt er, meist friedlich, in Ergebenheit, fokussiert auf das Ziel, das nie anders als über den Fortschritt in der Reihe, sprich: über das Abarbeiten von Positionen erreicht werden könne. Schlangesteher er-geben sich der Kontinuität, der Evolution, dem allmählichen Vordringen in die Sphäre des Erfolgversprechenden. Über die Reihe, sagt er, habe jeder eine Chance, zu erreichen, zu erlangen, Wünsche zu erfüllen. Und es werde erträglich, sagt er, nachzudenken, Phantasien zu entwickeln, sich treiben zu lassen – denn dieser kleine Schritt vor-wärts, sagt er, dieses taktvolle Vorrücken in der Reihe sei ein Nichts, eine physische Lächerlichkeit, etwas, dass ein jeder mühe- und reibungslos absolviere. Die Aufnahme in die Schlange, sagt er, bringe Entspannung und Ruhe, lasse Strapazen schrumpfen, häusliche Pflichten und Schuldeneintreiber in milderem Licht erscheinen. So in Reihe, sagt er, könne man überstehen, sich hingeben, etwas aufdröseln – weil nach laufender Prozedur bereits die neue Folge gefügt werde, eine Linie, in die man wechseln müsse, sobald das Alte getan sei. Man könne überlegen, sagt er, was morgen anstehe, ja na-türlich: anstehe, weil auch das in Reihe, oder anders formuliert: der Reihe nach zu notieren, herauszustellen und zu lösen sei.
In Reih und Glied, sagte er, im Marschblock, in der Formation werde Verlässlichkeit erzeugt, die geballte Kraft, die gedröhnte Einstimmigkeit, die vervielfachte Salve, die zu- und auftreffe. In der Reihe, sagt er, gebe es weder Chaos noch Revolutionen und … kaum Kirchenaustritte.

Wehe dem, sagt er, der all das hinwerfe, in Frage stelle und aus der Reihe tanze. Wehe dem, der aus Zeitnot, Genervtheit oder bloßem Protest die Reihe verlasse, sie einfach aufkündige. Wehe dem, der Entsagung predige, ein Aussitzen, ein alternatives Zielfin-den oder gar das Chaos ins Auge fasse. Er werde, sagt er, in ein neues Raster gesteckt. Anders als die Schöpfer der Reihe, anders als die, die sich nur bedingt einreihen, um glaubwürdig zu erscheinen, werde er farbig und angreifbar. Und auch das, sagt er, folge der Reihe, einer Abfolge von Verschärfung. Zunächst sei es nur ein Auflachen, später das bemühte Erklären, das Daraufhinweisen, das Darauf-aufmerksam-machen. In der Folge dann schon: Das Überzeugenwollen, das auf Geschmack, Usus und Gebräuche Hinweisen-müssen, und wenn selbst das nicht fruchte, käme die Anklage. Ja, genau bis dahin, bis an diesen Punkt, reiche die Reihe der Stilmittel.

Anders aber, sagt er, wenn der Reihenverächter Talent habe, anders, wenn er mutig oder gar ein Genie sei. Anders aber, wenn er Rechtsmittel der Reihe nach ausschöpfe und geschickt über Wasser bleibe, wenn er Krusten aufbreche und Neues, Einleuchtendes, hoffähig mache. Dann plötzlich, sagt er, lichteten sich die Reihen, würden brüchig und verschwänden ganz einfach. Nicht aber, um sich als Form aufzukündigen. Nein! Nur, um sich neu zu stricken. Denn bald schon stehen sie wieder, sagt er, die üblichen Verdächtigen – in Reihe geschaltet und artig. Vergessen seien die alten Thesen, vergessen die Absonderlichkeiten, die sie auflösten.

So seien wir nun einmal, sagt er, … reihum.