Putin hat mit seiner Aggression in der Ukraine auch für Russland einen Kolossalschaden verursacht. Denn er ist nicht nur dabei, Hunderttausende Menschen in Unglück und Tod zu schicken, er sagt sich quasi von der gesamten Restwelt los. Die ihn dann auch mit heftigen Sanktionen belegt. Was allerdings viel schlimmer ist: Er hat nicht nur sich und seine sklavisch ergebene Clique, sondern ganz Russland in Misskredit gebracht. Wenn es im 2. Weltkrieg hieß: die Russen kommen, schreckte das viele Deutsche in Grund und Boden. Ein Rachefeldzug war angesagt, von dem man glaubte, dass er völlig unangemessen übers Land rollte. Erst sehr viel später wurde in Teilen der Gesellschaft klar, dass der furchterweckende Ruf die furchterweckenden Gründe für Vergeltung allein durch seine Lautstärke, aber auch gepaart mit Lügen aller Art einfach außen vor hielt. Erst 1985, erst mit der bemerkenswerten Rede eines Richard von Weizsäcker drehte sich das. Der 8. Mai wurde zum Tag der Befreiung – zum Tag der Befreiung vom Hitlerjoch – erklärt. Frank-Walter Steinmeier kam in einer Ansprache vom 18. Juni 2021 auf genau diesen Tag zurück und würdigte insbesondere die furchtbaren sowjetischen Opfer. Die offizielle Betroffenheit war groß. Dennoch hat die Geste in gewissen Kreisen, aber auch in Teilen der breiten Bevölkerung nichts, aber auch gar nichts bewirkt. Denn immer noch wussten viele nichts über die Verbrechen von SS und Wehrmacht. Was besagten Schreckensruf nicht in vollem Umfang, wohl aber in weiten Kreisen der Bevölkerung (mal den Osten der Republik ausgenommen) am Leben hielt.
Nunmehr hat Putin das Image des noch immer im Umbruch befindlichen, nunmehr kapitalistischen Landes weitgehend zerstört. Was bei weniger belesenen Westeuropäern die Frage aufkommen lässt, ob der Russe an sich – also völlig unabhängig ob zaristisch, kommunistisch oder kapitalistisch – ein aggressives Etwas sei. So absurd das anmutet – in unserer Gesellschaft kommt es hier und da zu solchen absurden Denkweisen – mit darauf aufbauenden Verhaltensweisen. Da werden Russen oder Russlanddeutsche, Künstler etwa, ja sogar Kinder um ihre Haltung befragt und bei Missliebigkeit fristlos entlassen oder zu Entschuldigungen genötigt. Deutsch-russische Institutionen, gemeinsame Projekte und der Austausch von Künstlern und Wissenschaftlern werden auf Grundeis gesetzt – aufgelöst, ausgesetzt und ohne rechten Abschied vergessen. Auch das hat Putin zu verantworten, Putin, dem es offenbar egal ist, wie es den in Deutschland lebenden Menschen mit russischen Wurzeln, wie es denen geht, die bis vor Tagen noch enge Freunde in Russland hatten und diese heute loslassen oder peinlich begründen müssen https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/gunnar-decker-ueber-wladimir-putin-und-die-ddr-buerger.
Viele Menschen aus den östlichen Bundesländern befinden sich in Schockstarre. Hatten sie doch bis vor wenigen Monaten darauf geschworen, dass Putin der Mann sei, dem es am besten gelinge, Russland zusammenzuhalten, um es aus dem verharzten SowjetAlltag in die neue Zeit zu geleiten. Selbst nach der Vereinnahmung der Krim, beließen es viele beim Schulterzucken, und auch jetzt noch soll es Leute geben, die Putins Tun – wenn auch hinter vorgehaltener Hand – rechtfertigen.
Hier gibt es nichts zu rechtfertigen! Hier geschehen Tag für Tag Verbrechen, die es aufzuhalten gilt. Ein Freund meint, dass niemand Putin bremsen könne, dass massiver Widerstand im Lande vorerst nicht zu erwarten sei und erst zehntausende russische Tote einen Kurswechsel bewirken könnten.
Niemand blickt in die Backstages des FSB. Der militärischen Führung und der Duma. Wird Putin von eigenen Parteigängern entmachtet, wird er erschossen oder vergiftet? Gut möglich, dass man vergeblich auf solch eine Lösung wartet. Kurzfristig scheint sich nichts dergleichen anzubahnen. Das Korsett wirkt strikt geschnürt und haltbar. Aber alles kann täuschen. Fest steht, dass Bürger und Organisationen, die gegen den Krieg aufbegehren, zu Hunderten eingesperrt werden. Wobei völlig unklar ist, wieviel Widerstand wirklich existiert. Da bei falschen Worten (z. B. Krieg) oder pazifistischen Gebärden empfindliche Strafen drohen, anderseits eine quasi unbewegliche, indoktrinierte Masse existiert und Infos über wahres Kriegsgeschehen und Verluste geheim gehalten werden, wird sich kurzfristig wenig bewegen.
Könnte es da sein, dass die marginal erscheinende russische Protestbewegung missverstanden wird. Dass man hier im Westen doch dazu neigt, eine fest hinter Putin stehende Mehrheitsgesellschaft zu vermuten?
Ich habe kürzlich einen heftigen Streit erlebt, der sich an dem Lied „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ entzündete. Sich deshalb entzündete, weil man es mir mehrfach mit ironischem/sarkastischem Kommentar serviert hat. Nach dem Motto: Passt doch! Mich hat das extrem erschreckt und nervös gemacht. Für mich steht fest, dass es auf der ganzen Welt nur sehr wenige Menschen gibt, die den Krieg wollen. Es sind fast ausnahmslos Kriegsgewinnler. Wer ihn erlebt hat, den Krieg, der weiß, dass er das Schlimmste ist, was es auf Erden gibt. Folglich ist davon auszugehen, dass besagtes Lied die Frage von selbst und schlüssig beantwortet. Fast alle Russen wollen keinen Krieg, ja sie hassen ihn ebenso wie jeder friedliebende Mensch weltweit.
Mit Blick auf die Geschehnisse in Russland muss es jetzt heißen: Maximale Unterstützung für die um Frieden bemühte Zivilgesellschaft. Den Zweiflern sei gesagt, dass es in Russland viele unerschrockene Menschen gibt, die Putin offen angreifen und den Rückzug seiner Truppen fordern https://www.youtube.com/watch?v=MhhXnCMMB2w; https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/russische-theaterszene-schock-schmerz-scham. Auf sie und ihre Kraft muss sich auch Deutschland stützen – den Frieden in Europa kann es niemals ohne, sondern nur mit Russland geben. Selbst wenn jetzt der Eindruck entsteht, dass „die Russen verloren und längt bei den ebenso verruchten Chinesen gelandet seien“. Dass dem nicht so ist, wird sich nach dem Ende des Krieges und der hoffentlich bald stattfindenden Entmachtung des Tyrannen zeigen.
Was das unmittelbare Geschehen betrifft: Putin muss auf alle nur denkbare Weise gestoppt werden – selbst wenn das nur nach Zugeständnissen durch die Ukraine möglich ist. Hier kommt es auf geschickte Diplomatie und Gestaltung an. Wer glaubt, dass es an dieser Stelle ein demokratisches Prozedere geben wird, irrt sich natürlich. Die Zeit, die Gesellschaften und die Verhandlungspartner sind entweder nicht reif oder nicht frei genug für vernunftgesteuerte Lösungen. Die Verhandler auf beiden Seiten müssen dennoch mit Bedacht vorgehen. Die einen, weil ihnen ein (möglicherweise) Wahnsinniger im Rücken sitzt, die anderen, weil „ohne Verlust“ nichts vom dem zu haben ist, was wertvoll und wichtig ist. Die Ukraine, aber auch Russland – beide Länder müssen mit schmerzlichen Einschnitten rechnen – der Preis für Frieden, der Preis für den Erhalt einer selbstständigen und unabhängigen Ukraine, der Preis für Putins Rückzug ohne gravierenden Gesichtsverlust dürfte hoch ausfallen. Eine Autonomie für die russlandfreundliche Bevölkerung, die Neutralität des Landes sind Pfunde, die noch im Spiel sind und eingebracht werden können. Für die andere Seite gilt absolut und ohne Einschränkung: Die russischen Truppen müssen raus aus der Ukraine.
Niemand mag heute an eine totale Besetzung der Ukraine, an ein MarionettenRegime oder gar die Teilung der Ukraine denken. Das würde Osteuropa um Jahrzehnte, wenn nicht um ein ganzes Jahrhundert zurückwerfen.
Siehe auch Jacob Augstein im Gespräch mit dem Osteuropa-Historiker Karl Schlögel https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/karl-schloegel-von-grosny-blieb-nichts