Steinbrück hat die Hyänen von der Leine gelassen

Stichwort Hypo Real Estate (HRE). Dass sie überhaupt gerettet werden musste, wird bis heute bezweifelt. Möglicherweise wäre ein Zusammenbruch a la Lehmann Brothers mit Blick auf notwendige Reformen des Bankensektors heilsamer gewesen. Die Frage der Abwägung zwischen dem Getanen und dem wahrscheinlich Zweckmäßigeren stellt sich nicht – oder allenfalls theoretisch. Indiskretionen brachten es knapp ein Jahr nach dem spektakulären September 2008 an den Tag: Vor allem die Hauptgläubiger der Hypo Real Estate – die Allianz, die Münchener Rück, die Bayrische Landesbank, die HypoVereinsbank, die Deutsche Bank und die Commerzbank – hätten beim Absturz der HRE gigantische Geldmengen abschreiben müssen: 5 Milliarden Euro, 4 Milliarden Euro, 3 Milliarden Euro, und je 1-2 Milliarden Euro. Kein Wunder also, wenn gerade sie den systemischen Status der Hypo Real E. so dramatisch einforderten. Wie heiß es wirklich brannte, werden wir nie erfahren. Die Bundesregierung hat ihre Rettungspakete (so auch das für die HRE) in völliger Intransparenz und ohne jede parlamentarische Kontrolle installiert. Nur neun Bundestagsabgeordnete haben unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit Einblick in die Maßnahmen des in diesem Zusammenhang gegründeten Finanzmarktstabilisierungsfonds/des SoFFin. Deshalb weiß die Öffentlichkeit nichts darüber, welche Banken mit welchen Summen gestützt werden, welche Manager für welche Verluste verantwortlich sind und unter welchen Modalitäten die Staatshilfen vergeben oder verweigert worden sind (Attac-Reader vom April 2010: »Das Bankentribunal – weil die Krise System hat« – http://www.attac.de /aktuell/krisen/bankentribunal/weiterlesen/).

Unterm Strich. Peer Steinbrück ist maßgeblich für die mit der Finanzkrise einhergehenden Katastrophen verantwortlich. Um es genau zu sagen: Er hat die Hyänen von der Leine gelassen.

Gehen wir zurück ins Jahr 2003.  In der damals gegründeten »Initiative Finanzstandort Deutschland« sitzen von diesem Zeitpunkt an Großbanken und Versicherungen gemeinsam mit dem Bundesministerium für Finanzen und der Bundesbank an einem Tisch. Damals powerte die rot-grüne Bundesregierung auf Druck der Finanzlobby zwei Vorhaben. Deren Ziel war es, die Verbriefung von Bankkrediten und Kreditrisiken auch in Deutschland zu ermöglichen. Zum einen ging es um den »Finanzmarktförderplan«, der Hedgefonds in Deutschland zuließ und unbegrenzte Leerverkäufe erlaubte, zum anderen um die Stützung der von 13 Banken ins Leben gerufenen Lobby-Organisation »True Sale Initiative«, die sich für die Deregulierung des Derivatemarktes einsetzte. Gleichzeitig wurde das »Kleinunternehmensförderungsgesetz« verabschiedet, das den Banken in Offshore-Zentren die Ansiedlung von so genannten Zweckgesellschaften ermöglichte. Diese sogar staatlich subventionierten Einrichtungen (»Conduits«) befassten sich ausschließlich mit den o. a. Verbriefungen, die aus den Bankenbilanzen offiziell ausgegliedert werden durften und der Finanzaufsicht entzogen waren (!). Ja mehr noch: Die Gewinne aus diesen Aktivitäten, die bei anfänglich erfolgreicher Spekulation milliardenschwer zu Buche schlugen, blieben frei von jeder Gewerbesteuer (!). http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/100329_Bankentribunal_Anklageschrift.pdf. Die so privilegierten, sprich: mit nahezu jeglicher Freiheit ausgestatteten Finanzinstitute versprachen eine wichtige Gegenleistung. Sie wollten den deutschen Landen treu bleiben (also nicht in Richtung der lukrativen Märkte – Großbritannien und USA – abwandern) und den deutschen Mittelstand sehr viel großzügiger als bisher mit Krediten versorgen (ARD/«Kontraste«, 26. August 2010). Peer Steinbrück, der der großen Koalition von 2005 bis 2009 als Finanzminister angehörte, hat dann im Verbund mit den Länder-Ministerpräsidenten zugelassen, dass auch die Landesbanken massiv in die riskanten Verbriefungsgeschäfte einstiegen. Unter dem Strich hatten die rechten SPD-Führer, die bis 2005 an der Macht waren und danach weiter an der Regierung partizipierten, die Arbeit des politischen Gegners getan, sprich: den Protagonisten der deutschen Finanzwirtschaft Tür und Tor geöffnet. Dass dies mit Hinweis auf die renditeraffende Konkurrenz im Ausland geschah, versteht sich – dass Finanz-Politiker die Risiken eines solchen Spieles nicht begriffen haben, keinesfalls. Wer den Hund von der Leine lässt, muss wissen, ob der Pudel oder Pitbull ist und was er anzurichten vermag. Nein, diesen Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht, diesen Vorwurf gegen Schröder und Steinbrück im Besonderen, wäscht niemand ab. Wenn der Ex-Finanzminister heute darauf verweist, dass sowohl er als auch Merkel Reformen der internationalen Finanzarchitektur angemahnt haben, stimmt das formal. Sicher wissen beide, was auf diesem Sektor – zumindest aus ihrer Sicht– geschehen müsste. Die Liste existiert, doch auch dem jetzigen Verbund Merkel/Schäuble gelingt es nicht, auch nur Teile davon umzusetzen – selbst in der EU nicht. Auch hier vernebelt Steinbrück, der manches … als erreicht, einiges als nicht durchsetzbar und vieles in Arbeit sieht. Welch Schönfärberei! Von dem, was Experten im Sinne einer durchgreifenden Finanzmarktreform für nötig erachten, ist bis heute fast NICHTS realisiert, und ebenfalls nichts spricht dafür, dass es an irgendeiner Stelle zu einschneidenden Veränderungen kommt. Peer Steinbrück muss man folglich mehr vorwerfen als er selbst an Fehlern zugibt. Sie lesen richtig: Steinbrück übt in seinem Buch „Unterm Strich“  auch Selbstkritik. Ob er das tut, um lauter/wahrhaftiger zu wirken, ist schwer auszumachen. Der flüchtige Leser wird ihm da schnell Pluspunkte zuwerfen. Ich sehe das gemischt. Denn die Kritikpunkte sind so gravierend, dass sich Steinbrück quasi rückwirkend des Postens enthebt. Denn was moniert er an sich selbst? Dass er nichts zur Umstrukturierung der Landesbanken unternahm und damit deren spekulative Aktivitäten indirekt unterstützte, die mit dem »Finanzmarktförderplan« und dem »Kleinunternehmens- förderungsgesetz« ausufernde Spekulation sämtlicher deutscher Banken nicht rechtzeitig erkannte, geschweige denn eindämmte und dem Thema »Bankenaufsicht« zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Da fragt man sich doch: Gehört nicht eben das, was Steinbrück offenbar un- terlassen/vernachlässigt hat, zu den wichtigsten Aufgaben eines Bundesfinanzministers? Und ist es nicht ziemlich fies, den Eindruck zu erwecken, als gehörten Globalisierung, die komplizierten Verwerfungen im internationalen Finanzsystem und die Agenda 2010 wie selbstverständlich zum Kapitalismus, der in unseren Zeiten eben anders ticke als früher, eben harscher und dann auch chancenreicher. Steinbrück betrügt uns offenbar. Denn weder macht er brauchbare Vorschläge zu einem neuen, nachhaltigen Wirtschaftssystem, noch thematisiert er den teuflischen Circulus vitiosus, dem das Finanzsystem seit eh und je ausgesetzt ist. Die Banker beteuern heute, dass es unmöglich sei, die mit dem Staat vereinbarten Maßnahmen zur Rettung ihrer Institute demokratisch zu kontrollieren, sprich: ihre Inhalte und ihr Zustandekommen offen zu legen. Weil dann die Märkte wie verrückt darauf reagierten und »noch Schlimmeres« anrichten würden. Deshalb sei die rigide Geheimhaltung unverzichtbar – und der Staat müsse sie abnicken. In einer solchen Lage aber ist unbedingt davon auszugehen, dass Banker bestimmen, was zur eigenen und zur »Systemheilung« notwendig ist. Nämlich die Fortsetzung dessen, was immer geschah: weiteres Wirtschaftswachstum nach altem Muster, weitere Spekulation, weitere Vermögensverteilung von unten nach oben – mit exponentieller Entwicklung der großen Vermögen, erneuter Rettung aus geplatzten Finanzblasen zu Lasten der Steuerbürger und … und … und …

Kaum einem Politiker ist zuzutrauen, dass er die komplizierten Zusammenhänge fachlich sortieren und im Zweifelsfall Widerstand leisten kann. Wie auch sollte er Verantwortung für den möglichen Absturz übernehmen, wenn dieser unter Nichtachtung der Bankerstimmen tatsächlich eintritt. Es bedürfte schon genialer Fähigkeiten und eines neuen Menschentyps, um hier durchzudringen. Doch wie sollte ein solcher Sonderling in die Arena der Macht vorstoßen? Jeder heute aufs »Spielfeld« delegierte Finanzpolitiker gerät zwangsläufig zur Galionsfigur der Branche. Strafrechts-Experte Prof. Peter-Alexis Albrecht wörtlich: »Man kann sagen, dass das, was die Finanzlobby will, in diesem Land auch politisch umgesetzt wird.« (ARD/«Kontraste«, 26. August 2010). Wenn folglich alles nach dem Gusto der Banken, genauer: nach dem Willen der internationalen, vor allem US-amerikanischen und britischen Geldhäuser läuft, ist die gesamte Welt einem sich ständig beschleunigenden Kreisel aus persönlicher Gier, aus Machtansprüchen, politischer Vereinnahmung und daraus resultierender zunehmender Differenzierung zwischen Arm und Reich ausgesetzt. Dazu, wie dieses System funktioniert und schließlich ex- oder implodiert, hat Steinbrück nichts gesagt.

Doch zurück zu den eigentlichen – oder besser gesagt – angeblichen Reform- anstrengungen. Ich sagte es bereits: Weder Merkel noch Schäuble werden hier etwas ausrichten. Ja, ich gehe sogar weiter: Sie dürfen es auch gar nicht wollen. Denn nicht nur die Machtambitionen in New York und London stören, auch Ackermann hat ausdrücklich davor gewarnt, den deutschen Banken zusätzliche Lasten aufzuerlegen. Und ganz sicher will dieser Mann nicht nur nachziehen, sondern souverän am neuen Spiel teilhaben. Im Klartext: Nicht nur die Wall Street und die Londoner Börse entziehen sich erfolgreich fast allen Regulierungen, auch die Deutsche Bank drängt nach der alten Freiheit. Immer aber, wenn es ums Bezahlen geht, ja um die Teilnahme der Banken an der großen Schuldentilgung, dann herrscht Schweigen. Völlig unverständlich ist dann auch, dass Steinbrück in seinem Buch („Unterm Strich“) von beachtenswerten Anstrengungen der Banken spricht. Einfach, weil deren Beteiligung an der HRE-Rettung größer sei als der jährliche Gewinn. Wen aber interessiert das? Entscheidend ist doch wohl der Vergleich zwischen den Verbindlichkeiten der HRE (gegenüber der jeweiligen Bank) und den jeweils zur Rettung aufgebrachten Mitteln. Das am 25. August 2010 von der Bundesregierung verabschiedete Gesetz zur Abwendung künftiger Pleiten (» Gesetz zur Reorganisation von Kreditinstituten«) mutet ebenfalls wie ein Pflaster auf dem Tranchierschnitt an. Denn niemand wird im Ernst annehmen, dass man die Branche, die jährlich nur magere 1 Milliarde Euro abgeben bzw. »ansparen« will, damit im Notfall retten könnte (»tagesschau.de/rbb«, 25. August 2010). Ähnlich kläglich versacken die Bemühungen um eine Erhöhung des Eigenkapitals von Banken. Hier werden 5-6% angestrebt, doch 5-6% wovon? Diese Frage wird von denen, die betroffen sind, in immer abenteuerlicherer Weise beantwortet – natürlich mit dem Ziel, die Kapitalbindung im Hause zu minimieren. Denn was fest liegt, ist für die Spekulation verloren. Und so pokern die, die jetzt mit Basel III befasst sind, munter weiter. Gehören zur Bezugsgröße nur gehaltene Aktienpakete und einbehaltene Gewinne oder auch Hybridprodukte und … ??? Das aber hat kaum mehr mit Steinbrück zu tun. Es sei denn, man stylt ihn zum Kanzlerkandidaten – einer SPD, die (Sie ahnen es bereits) erst einmal an die Macht kommen und dann stärkste Partei sein muss.

Nachtrag vom 16. Juli 2011: Insgesamt dreizehn Banken wurden im Juli einem Stresstest unterzogen um festzustellen, ob sie gegen künftige Krisen ausreichend gewappnet sind. Kriterium war die sogenannte »Kernkapitalquote im Stressfall«. Einzig die Landesbank Hessen Thüringen (Helaba) bestand diese Prüfung nicht. Allen anderen wurde mit Quoten von 5,5-10,4 % Tauglichkeit bescheinigt (»Rheinische Post«, 16. Juli 2011). Zweifellos hat die Branche sich und den Bürgern etwas vorgemacht. Denn ein nahe liegender Ernstfall wurde nicht berücksichtigt: die Pleite von Griechenland.