Ist jetzt auch „der Freitag“ im Mainstream angekommen?

Ich habe mir das Abonnement für „der Freitag“ aus dem Kopf geschlagen. Was sich das Blatt – letzte Woche mit der Vagina-Show, diesmal mit der Putin-Schmähschrift „Das Siebengesicht“ (Nr. 24 vom 14. Juni/ein Dossier des Freitag)– geleistet hat, ist nicht nur abenteuerlich – es zeigt, dass der Mainstream auch unter dem sonst so geachteten Augstein eingezogen ist. Was sich der im sicheren Nest sitzende Keith Gessen („The New Yorker“ ) da einfallen ließ, ist Hetze hoch drei – zumindest aber das Einseitigste, was ich je über Putin zu Gesicht bekam.  Der Beitrag strotzt nur so von Herabwürdigungen, Verschwörungstheorien, unbewiesenen Behauptungen, wie sie BILD nicht besser servieren könnte. Putin ist zweifellos ein Machtmensch, ein mutierter Kommunist – ja vielleicht sogar ein Imperialist. Aber er hat eines nicht getan – seine Landsleute verraten. Im Gegenteil: Er hat sie aus den Klauen des ständig betrunkenen Jelzin gerettet, eines Menschen, der Russland bereits an die Milton Friedmaner Chikago-Boys so gut wie verscheuert hatte. Die nämlich hatten für Russland Tabula Rasa vorgesehen. Wer Naomi Klein gelesen hat („Die Schockstrategie“) weiß sofort, was ich meine. Die US-Berater wollten Staat und Sozialleistungen strangulieren und einer irrwitzigen Privatisierung Wege und Tore öffnen. Putin, der zunächst schwach erschien, hat diese Strategie schnell durchschaut. Heute sind alle Schlüsselindustrien Russlands in staatlicher Hand – also den Tentakeln ausländischer Konzerne entzogen.

Die neuen Herren in Russland haben ihrem Volk mehr gegeben als die neuen Überstülp-Herren der Ex-DDR. Jedem ehemaligen Sowjetbürger wurde die eigene, gemietete Wohnung als sofortiges Eigentum überlassen. Dazu erhielt er eine größere Summe Bargeld. DDR-Bürger, denen ein 17 Millionstel des DDR-Eigentums zugestanden hätte, bekamen nichts – weil angeblich nicht als Marodie vorhanden war. Dabei hatte Rohwedder, der erste Treuhandchef, noch ein riesiges DDR-Vermögen ausgemacht. Aber dann war er plötzlich tot. Schade für Rohwedder, schade für die Enteigneten!

Wer glaubt, dass man ein großes Land, das Demokratie im westlichen Sinne nie kennenlernen konnte, problemlos ist eine freie Gesellschaft führen kann, irrt natürlich. Und so sind Mittel und Methoden in Russland, das sicher – wie das amerikanische – über Jahrzehnte seinen Weg finden muss, eben keine demokratischen. Immerhin sehe ich, wenn der Westen über Demos in Russland berichtet, Dutzende Reporter hinter den Polizisten herrennen, die Protestler hoch nehmen. Es gibt sie also die Presse, und sie darf berichten – mit Diktatur hat das wenig zu tun.

Gewiss, Putin hat in Tschetschenien blutige Arbeit leisten lassen, Putin hat aus militärsstrategischen Gründen die von Chruschtschow einst an die Ukraine verschenke Krim „zurück geholt“. Beides steht auch menschenrechtlich in Frage. Und es macht keinen Sinn, ähnliche Feldzüge und Räubereien der Amerikaner dagegen zu halten. Zu bedenken ist, dass eine überwältigende Mehrheit von Krimbewohnern für die „Annexion“ gestimmt hat. Das Putin hinter einzelnen Morden an Konkurrenten, Oligarchen, Journalisten etc. stand/steht oder Hackerangriffe während der amerikanischen Präsidentschaftswahlen zu verantworten hat, ist niemals bewiesen, aber immer als marktschreierisches Element gegen Putin verwendet worden. Seltsamerweise wird auf die Verächter gehört, statt die Beweise einzufordern. 

Wichtig ist, dass es eines Menschen wie Putins bedurfte, Russland zusammen zu halten. Wichtig ist, zu erkennen, dass fast alle uns fragwürdig erscheinenden Handlungen Putin ihr Vorspiel hatten. Wir erleben die laufende Einkreisung Russland durch die Nato, Raketenschilde gegen Moskau und Embargos, die keine Sinn machen – aber wie das zuletzt von Trump angedrohte – Russland aus den Geschäftslinien drängen sollen.

Putin ist nicht der dumme, schwache, hinterlistige, kleine KGB-Mann von damals – er ist ein Regierungschef, der 80% seiner Landsleute hinter sich weiß. Warum wohl?