Es ist fast 30 Jahre her, seit die DDR das Zeitliche segnete. Diejenigen, die sie einst bevölkerten, existieren noch. Besser gesagt: Einige haben überlebt – schwer ergraut und z. T. schwer belehrbar. Viele von den Jüngeren wissen mit dem, was den ostdeutschen Staat einst ausmachte, wenig oder gar nichts anzufangen. Sie starren auf die Alten, nicken höflich oder schütteln die Köpfe. Kann es sein, dass hier Geschichte, dass Biografien und Leben einfach verloren gingen – vielleicht auf immer?
Wer sieht, worauf deutsche MainstreamMedien das dreibuchstabige Kürzel noch immer reduzieren, könnte schnell auf die Idee kommen, dass genau das zutrifft, dass es wirkliches Leben östlich der Elbe nie gegeben hat. Weil das, was den Menschen so täglich ausmachte, nicht nur restriktiv und bizarr, sondern repressiv und unterdrückerisch gewesen sein musste. Ob Dokumentationen, ob Spielfilme oder Serien – jedes der uns heute servierten Formate ist durchsetzt von Stereotypen – allesamt despektierlicher Art. Den Ossis wurde entweder Blödheit oder Faulheit bescheinigt, sie waren stasiüberwacht oder selbst Stasi, und wenn nicht das, dann wohnte ein verkappter, nicht aufgearbeiteter Nazi in ihnen, und was sie bewohnten, produzierten und lebten, war behelfsmäßig oder marode.
Gewiss, es gibt Filme wie „Bornholmer Straße“, „Das Leben der Anderen“, „Nikolaikirche“ und die Serien „Weißensee“ und „Deutschland 83“, die Teile von DDR-Befindlichkeit sehr wirklichkeitsnah spiegeln. Doch es sind eben Ausschnitte – und wenn man genau hinschaut – Miniaturbilder aus keineswegs verallgemeinerbaren, typischen Milieus. Denn es ist – wider alle filmische Kolportage – eben nicht die Mehrheit der DDR-Bürger gewesen, die 1989 spontan zur Mauer und darüber hinausdrängte, und es waren natürlich nur 2% der Ostler, die für die Stasi gearbeitet hatten und wahrscheinlich noch sehr viel weniger, die deren Überwachung erleiden mussten. Was keines der verübten Verbrechen bagatellisieren soll. Aber für den Menschen, der unpolitisch seinem Alltag folgte, für den einfachen Arbeiter, der am Fließband oder in der LPG sein Geld verdiente, interessierte sich tatsächlich niemand. Es wurden ausschließlich diejenigen aufs Korn genommen, bespitzelt, eingelocht und misshandelt, die gegen das System aufbegehrten. Sei es durch Sabotage, durch öffentliche Schmähung von Staat und Politikern, durch bewusste Arbeit gegen die Partei und ihre Institutionen oder einfach nur, weil Leute raus wollten aus dem Käfig. Und natürlich hatte man auch ein Auge auf diejenigen, die Kontakte zum Westen pflegten oder pflegen mussten.
In der Ex-DDR ging es also vergleichsweise normal zu, wenn man gemächlich mitschwamm und den Begriff „Freiheit“ nicht allzu genau nahm. Tatsächlich wurde in vertrautem Kreis – auch zu politischen Themen – völlig offen gesprochen. Selbst wenn es um so brisante Themen wie Ausreisen oder eben nur das Reisen ins westliche Ausland ging.
Ebenso wie im Gesamtdeutschland von heute war die Masse der Bevölkerung politisch uninteressiert, unbeleckt und bar tieferen Wissens. In großen Teilen der DDR gab es Westfernsehen und „verlässliche Genossen/ Mitläufer“ durften nach Jugoslawien und Kuba reisen. Neben dem schroff Ungesetzlichen – ich meine hier all das, was mit Menschenrechtsverletzungen zu tun hatte – gab es die unspektakuläre Tagtäglichkeit. So genommen ist es zweifellos falsch, das Ganze, ich meine die DDR-Gesamtheit als Unrechtsstaat abzutun. Denn natürlich wurde in allen außerpolitischen Bereichen – ebenso wie in der Bundesrepublik – Recht gesprochen, wobei die Auffassungen/Grundsatzurteile zu den jeweiligen Themen nicht identisch, wohl aber sehr vergleichbar waren. Schwach war es allerdings um die anwaltliche Verteidigung bestellt. Bürger, die ihrer bedurften, fanden oft wenig Unterstützung.
Was will ich sagen?
Seit der Wende wird in Deutschland – und damit auch im weitgehend uninformierten Westdeutschland – ein DDR-Bild verkauft, das im Sujet Stasi vielfach korrekt, mit den Behauptungen dumm, faul, marode und faschistisch eher verzeichnet daherkommt. Denn wie in jedem Land der Welt gab es natürlich auch in der DDR neben gut ausgebildeten und intelligenten Bürgern Faule, Blöde und Rechtsextreme sowie zahllose Fabriken/Häuser/Versorgungssysteme/Umweltschutzeinrichtungen, die nach westlichen Maßstäben als marode/völlig unzureichend oder gar nicht erst vorhanden galten. Zu allem anderen aber – vor allem zu den sogenannten „Errungenschaften“ des Systems wie kostenfreie Bildung, Sozialleistungen (kostenfreie Krankenversorgung/Polikliniken, VollBeschäftigung, Urlaubsmöglichkeiten und Freizeitaktivitäten etc.) und zu durchaus erfolgreichen Investitionen (z.B. in der Stahl- und Möbelindustrie sowie im Werkzeugmaschinenbau) – schwiegen sich die Berichterstatter vorwiegend aus, wodurch für die Zeit vor 1989 ein einseitiges verzerrtes Etwas zustande kam.
Die schlechte Ausleuchtung wurde dadurch verstärkt, dass man mit Merkel und Gauck zwei aus dem Osten stammende Politiker in die höchsten Ämter hievte und so den Eindruck erwecken konnte, dass ostdeutsche Interessen auch ganz oben gut aufgehoben waren. Dass beide Evangelen die entwurzelten Ostdeutschen weder begeistern, noch repräsentieren konnten, blieb außen vor. Wer dennoch böswillig schnäuzte, wurde schnell der Undankbarkeit geziehen. Immerhin begannen Landschaften zu blühen, Autohäuser zu leuchten und McDonald‘s preiswert zu verhamburgern.
Keine Frage: Das manipulierte HalbBild war und ist von Seiten der Regierenden immer gewünscht/gewollt worden, denn wie hätte die brutale Abwicklung der DDR-Wirtschaft und -Lebenswirklichkeit besser begründet werden können als durch eine so gerichtete Lagebeschreibung. Wir haben etwas völlig Untaugliches, Unzeitgemäßes und Uneffektives schnell und schmerzlos beseitigt, könnte das heißen und gemeint wäre: Wir haben die taugliche Substanz, die uns hätte gefährlich werden können (da unliebsame Konkurrenz), ausgemerzt oder verscherbelt und die untaugliche verschrottet – die anhängenden Menschen inbegriffen. Diesen Sachverhalt tiefgründig zu spiegeln, fehlen hier Platz und Zeit.
Fest steht, dass im Rahmen der Treuhand, Verbrechen begangen wurden, die mit dem Tod von Detlev Rohwedder aufwuchsen und die Abwicklung des Ostens mit Blutspuren belegten http://www.spiegel.de/spiegel/privatisierung- der-ddr-wirtschaft-fuehrte-zu-traumata-a-1180354.html. Viele Menschen glauben bis heute, umsonst gelebt zu haben, fühlten/fühlen sich quasi um ihre Lebensleistung gebracht und versuchten, meist wenig erfolgreich, in neuen Terrains zu ankern. Was sich anbahnte, waren eine weit höhere Arbeitslosigkeit, geringere Löhne und Renten als im Westen https://de.scribd.com/document/365485393/ Der-Spiegel-Magazin-No-48-Vom-23-November-2017. Hinzu kam, dass nur sehr wenige Ostdeutsche in neu zu besetzende Führungspositionen gelangten – ganz gleich, ob es sich um Unternehmen, politische Ämter oder wissenschaftliche Institutionen handelte https://www.mdr.de/investigativ/regierung-osten-ohne-posten-100.html. Dort, wo es ums Bestimmen, Geldabschöpfen, Richten und Regieren ging, hatten und haben bis heute die Wessis das Sagen https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-westdeutsche-bevorzugt-kaum-ostdeutsche-in-spitzenpositionen-100.html. Ihre Netzwerke funktionieren. Und Wessis ziehen Wessis nach.
Trotz erdrückender Kapitalismuserfahrungen gelang es aber nicht, das immense Wirtschaftsgefälle zwischen Ost und West durchgreifend zu reduzieren. Führende Experten haben diesen Zustand bereits festgeschrieben http://research.handelsblatt.com/assets/uploads/AnalyseOstWestGefaelle.pdf. und https://www.zeit.de/2018/40/ostdeutschland-chemnitz-toleranz-wirtschaftskraft. Die Ursachen für die Disproportionen liegen auf der Hand: Nach der Wende ist nicht eine Dax-Konzern-Zentrale in den Osten umgezogen, kein einziges, eigenständiges, auf dem Terrain der Ex-DDR entstandenes Unternehmen hat es in den Dax geschafft. Das Ländle jenseits der Elbe wurde zur verlängerten Werkbank verdammt. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
Was mit gleicher Wucht auf viele Ossis einschlug, war der Verlust ihrer auf „Westgrundstücken“ erbauten Häuser und Häuschen, einschließlich der dazugehörenden Landflächen. Nach der Wende wurden aus dem Westen 2,2 Millionen Anträge auf Rückgabe solcher Wohnimmobilien gestellt. Rechnet man das hoch, dann waren über 8 Millionen Ostdeutsche (das war mehr als die Hälfte der Bevölkerung) von der Sorge betroffen, ihre Häuser, Wohnungen oder Grundstücke räumen zu müssen. Obwohl die Betroffenen nach DDR-Recht die Besitzer waren https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/bananenrepublik Tatsächlich mussten fast alle ihre Ansprüche aufgeben. Viele Grundstücke mussten auf Kosten der ehemaligen DDR-Bürger auch noch beräumt werden. Damit gingen nicht nur wichtige Bindungen, sondern auch viel des ohnehin knappen Geldes verloren.
Hinzu kam, dass die Ex-DDR-Bürger, die zu 80% Atheisten waren, einem zunehmenden „Rück- und Neubesinnungsdruck christlicher Missionare“ ausgesetzt wurden. Von westdeutschen „Helfern“ sollte im Unrechtsstaat verschüttetes religiöses Potenzial ausfindig gemacht und neues erschlossen werden. Logisch war das. Denn die Kirchen des Abendlandes waren schon immer als willfähriger Unterstützer des „rechtsstaatlichen Kapitalismus“ aktiv gewesen. Und schienen so bestens geeignet, den Weg aus der Diktatur ins neue Deutschland bewanderbarer zu machen. Bei den betroffenen Ostdeutschen stießen die Missionierungsversuche weitgehend auf Ablehnung. Umso mehr als durch wachsende Zuwanderung eine weitere, noch fremdere Religion (der Islam) präsent wurde. Damit, dass der Mensch vollends dem Glauben unterworfen war, konnten die Menschen östlich der Elbe nun gar nichts mehr anfangen.
Was aufkam, war Ohnmacht – und diese Ohnmacht war begründet, denn das, was im neuen System rechtlich/ökonomisch vonstattenging und gebraucht wurde, war weitgehend unbekannt. Die Ossis wurden betrogen – wo immer das ging: bei Versicherungen, mit Schrottimmobilien, bei MietWohnungen und vor allem in den Sphären künftiger Macht.
Dass es unter Ostdeutschen schon immer verkappte Nazis und Rassisten gab, kann man glauben oder zurückweisen. Auch in die DDR wurden Reste des Dritten Reiches importiert, wenngleich die Entnazifizierung – anders als in Westdeutschland – sehr viel gründlicher stattfand. Sicher gab es auch Abweichungen. Hier und da mochte man sich auch im Osten einen „Erfahrungsträger“ frisch gewendet und tauglich gemacht haben. Solche (faulen) Kompromisse dürften sich aber in Grenzen gehalten haben.
Mit Ausländern hatten die DDR-Bürger wenig Kontakt. SowjetSoldaten lebten in ihren Kasernen. Kubaner, Mosambikaner, Vietnamesen etc. wurden zwar in mehreren Städten ausgebildet, wohnten und lebten aber eher in abgeschotteten Bereichen. Folglich waren Kontakte, war ein Zusammenleben mit Menschen aus „fremden“ Ländern kaum gegeben. Etwas, das dem Zusammenleben in Westdeutschland glich, gab es also nicht: nicht die Anfänge von Integration, geschweige denn Multi-Kulti.
Auch die Grenznähe zu Polen und Tschechien erwies sich nach der Wende als desaströs. Auch hier mussten vor allem die Ossis bluten. Denn das wirtschaftliche Gefälle bescherte den Grenznahen eine Konkurrenz, die auf deutscher Seite große Teile des kleinen Gewerbes zum Aussterben brachte. Unzählige Unternehmen gingen pleite und was dazu kam, trieb die Not weiter. Nicht nur, dass extrem gestohlen und geschmuggelt wurde, mit der Wende kamen auch Menschenhandel (vor allem Zwangsprostitution) und nach der Jahrtausendwende ein massives Rauschgiftproblem (Crystal Meth) auf. Die Kriminalität von Ausländern wurde folglich zu einem mehrdimensionalen Desaster.
Nimmt man die Dinge zusammen, dann wird schnell klar, dass mannigfaltiges Politikversagen, ab September 2015 vor allem Merkels Umgang mit Flüchtlingen, zu massivem Widerstand – vor allem in der östlichen Bevölkerung – führen mussten. Die Ossis fühlten sich als Verlierer https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2017/Zurueck-im-Osten-Besuch-in-der-alten-Heimat,panorama8118.html. Und selbst die Kinder der Betroffenen spürten, was ihren Eltern angetan worden war.
Dass es darüber hinaus Menschen gab, die mit den neuen Verhältnissen zu Recht, sprich: im neuen Deutschland erfolgreich vorankamen, steht außer Frage. Doch es war eine Minderheit, die problemlos die Kurve kriegte. Immerhin waren zwei Millionen Mutige, Fähige und Singles zwei Jahrzehnte lang in den Westen „diffundiert“ – oft, ohne an Rückkehr zu denken. Man kann es durchaus schonungslos formulieren: der Ex-DDR ist ein Großteil der „guten Substanz“ verloren gegangen.
Es ist eine besondere Tragik, dass sich ostdeutscher Protest heute vornehmlich bei Pegida und in der AfD artikuliert, dass sich Menschen von faschistoiden Wortführern vereinnahmen lassen und gemeinsam mit ihnen auf die Straße gehen http://www.stoerfall-zukunft.de/?p=190. Gut möglich, dass ein Sortiervorgang deshalb ausblieb, weil Leute, die berechtigte Kritik an deutscher Politik übten, keine eigenständige Plattform zustande brachten. Oder weil es nicht gelang, Nazis und Rassisten aus solchen Bewegungen heraus zu halten.
Genau das macht es leicht, die große Anti-Ossi-Keule zu schwingen, den (vor allem sächsischen) „Rotztölpeln“ nicht nur Undankbarkeit, sondern auch kriminelles, rassistisches Gehabe in die Schuhe zu schieben. Wer es sich also leichtmachen will, kann genauso denken und sich abwenden.
Damit allerdings kommen wir der deutsch-deutschen Zukunft kaum näher. Sehr viel zielführender wäre es jetzt, Verfassung (in ihr wurde mit der Wiedervereinigung kein Wort geändert), Einigungsvertrag (er wurde zwischen einem cleveren Sehenden/Schäuble und einem unwissenden Blinden/Krause ausbuchstabiert) und die Geschichtsschreibung in ihrer Gänze so zueinander zu bringen, dass sie den realen Gegebenheiten zwischen beiden Deutschlands gerecht wird. Wir brauchen in diesem Land, das für unzählige Länder dieser Erde Repräsentationen vorhält, endlich einen Lehrstuhl für DDR-Geschichte und … eine faire Reaktion auf die gewonnenen Erkenntnisse. Denn die primitive, aber weit verbreitete Ansicht, „was vor dreißig Jahren als untauglich kaputtging, interessiert nicht mehr“,
muss endlich aus der Welt!
Ich empfehle ausdrücklich, dem zweiten, oft unterschlagenen Teil DDR-Geschichte nachzugehen. Aber Vorsicht: Während Gysi kritisch und auch selbstkritisch mit den Dingen umgeht, serviert Franziska Kleiner das andere, quasi komplementäre Halbbild – vorwiegend aus der Sicht der Nostalgiker. Kleiner lässt die DDRischen Puppen tanzen, während Umweltsünden, die Schüsse an der Grenze, die Tätigkeit der Stasi, systematischer Wahlbetrug, fehlende Meinungsfreiheit, Ausreiseanträge, Flüchtlingszahlen und -schicksale etc. viel zu schwach gezeichnet, z. T. auch unterschlagen werden.
„Gregor Gysi – ein Leben ist zu wenig“ https://www.amazon.de/Ein-Leben-ist-wenig-Autobiographie/dp/3351036841#reader_3351036841
„Leben in der DDR – Bilder und Geschichten“ https://www.amazon.de/Leben-DDR-Geschichten-Franziska-Kleiner/dp/3359022092/ref=sr_1_2?s=books&ie=UTF8&qid=1521991807&sr=1-2&keywords=Leben+in+der+DDR+Bilder+und+Geschichten