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Die widerliche Aura des Militarismus (2)

Es gehört zu den Absurditäten unserer Zeit, dass die Erde von immer mehr Waffen überschwemmt wird, obwohl durch Kriege – wie man weiß – kein menschliches oder gesellschaftliches Problem gelöst wird. Da Waffenhandel und Krieg aber große Geschäfte implizieren und fast immer mit der Vereinnahmung von Rohstoffen einhergehen, gibt es überall auf der Welt Menschen, die Konflikte anheizen, anzetteln oder neu beleben. Dass Deutschland zu den Ländern gehört, die besonders viele Waffen exportieren, ist angesichts unserer Vergangenheit und der vollmundigen Beschwörungen nach 1945, besonders bitter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-89932536.html. Da nehmen sich auch Beschwichtigungformeln, die den Einsatz deutscher Waffen in Spannungsgebiete untersagen oder ihren kollateralschadenfreien Einsatz beschwören, wie Ammenmärchen aus. Denn wie man weiß, werden die Entscheidungen für Waffenlieferungen vom Bundessicherheitsrat im geheimen Safe-Bunker zwischen Leuten ausgekungelt, die zu absolutem Stillschweigen verpflichtet sind. Dass dort neben den üblichen Verdächtigen mal ein Grüner, geschweige denn Linker mit verschwört, ist eher selten. Gleichwie: Die Rüstungsexporte rollen, und was heute wegen ausbleibender Bestechung nicht mehr nach Griechenland reinkommt, muss auf andere Höfe. Da wird Saudi-Arabien von der diktatorischen Aura reingewaschen, da geht’s in die Abseiten der Spannungsgebiete. Und wir wissen ja, wer in Libyen und woanders mit weitergereichten deutschen Waffen geschossen hat oder weiter schießt.

Die Amerikaner, die weltweit noch mehr Waffen verteilen als die Deutschen, haben seit kurzem ein echtes Problem: die Drohnen. Achthundert Stück von denen sind täglich weltweit unterwegs, und man kann durchaus davon ausgehen, dass die meisten auf US-amerikanischen Mist gewachsen sind. Wenn ich die Drohnen als Problem benenne, dann diesmal nicht, weil diese völkerrechtwidrig und gegen den ausdrücklichen Willen von Menschen und Regierungen genau dort platziert werden und töten, wo es die Amis gern haben – nämlich in Afghanistan, Pakistan und im Jemen. Sondern deshalb, weil die Drohnen ein Dekorationsdebakel hervorrufen. Präsident Obama nämlich will den Soldaten, die aus sicheren Kommandozentralen heraus Killerdrohnen lenken, bei herausragenden Abschussquoten neue Orden verleihen und zwar solche, die ihrer Bedeutung nach noch vor dem Verwundetenabzeichen „Purple Heart“ rangieren. Solch fehlende Sensibilität und Geschmacklosigkeit ist bei vielen US-Militärs auf Protest und brüske Ablehnung gestoßen („Süddeutsche Zeitung“, 8. März 2013). Kein Wunder: Gilt doch in der Army das Zumarkte-Tragen der soldatischen Haut als höchstes Zeichen für Ehre und Opferbereitschaft – ganz gleich, ob der Waffengang ein verbrecherischer Vietnam- oder Irakkrieg war oder eben nur ein leichtsinniger Patrouillengang im friendly fire. Wie auch immer: die Auseinandersetzung um Orden und Werschätzung dauert an – mit hässlichen Begleitgeräuschen. Kein Wunder, dröhnen da die einen, dieser Präsident habe „für seinen Friedensnobelpreis weder Freiheit noch Leben riskiert“ oder „Es kann schwere Folgen haben, das Sich-Opfern-Müssen aus dem Krieg zu entfernen.“ Wer solches liest, hat Probleme zu orten, was oben und unten ist. Thomas de Maizière , der deutsche Verteidigungsminister, scheint diesbezüglich ebenfalls ein schlechtes Gefühl zu haben. Nicht, dass er Ordensprobleme hätte. Doch die Abneigung gegen Drohnen, die nicht nur bei der LINKEN, sondern nahezu parteiübergreifend in jedem der politischen Lager, vor allem aber im Gros der deutschen Bevölkerung wächst, hat ihn sichtbar ausgebremst. Er will die Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr jetzt bis zur Bundestagswahl aussetzen http://www.sueddeutsche.de/politik/ausruestung-der-bundeswehr-bewaffnete-drohnen-erst-nach-der-wahl-1.1645882. Ein kleiner mieser Trick, wie man schnell erkennt. Denn niemand kann uns weismachen, dass Deutschland mittelfristig auf diese Waffe verzichtet. Immerhin gilt es, militärtechnisch am Ball zu bleiben. Und vielleicht lassen sich die anstehenden Rückzugsgefechte in Afghanistan noch als lohnende Übungseinsätze gestalten. Immerhin wäre dann EIN Sinn dieses Krieges – wenn auch ein verwerflicher – erfüllt. Um es kurz zu sagen: Mir kommt immer häufiger der Ekel – ob der heuchlerischen Argumentationen, der Ehrbegriffe und Indoktrinationen. Einfach grauenhaft fand ich Popen in Saigon oder Bagdad – wo der einfache Soldat ausblutete, was Verbrecher am grünen Tisch befahlen. Und noch furchtbarer jene Politiker, die den Lobbyisten des Krieges verfielen, fingierte Krieggründe absegneten und ihre Landleute für die Schlachtbank fit machten. Sämtliche von den USA nach dem Koreakrieg vom Zaun gebrochenen Konflikte bedienen genau dieses Muster.

An jedem Krieg verdienen vor allem diejenigen, die Waffen und Munition liefern und Zerstörtes wieder aufbauen. Das zynische Miteinander von Vernichtung und Wiederkehr ist typisch für fast jedes Schlachtfeld. Es beschert Milliarden für große Konzerne – zu Lasten der am Kriege Beteiligten und der Steuerzahler im Land des Aggressors/“Befreiers“. Obwohl das alles einleuchtend ist, wird weiter produziert – jede neue Waffe noch scheußlicher als die abgelöste. Auf der Waffenmesse in Abu Dhabi konnten die Hightech-Kreationen der letzten Saison besichtigt werden http://www.spiegel.tv/filme/waffenmesse-magazin/. Ein verheerender Anblick! Selbst die südkoreanische Firma Samsung, die bislang tunlichst um ihren (friedlichen) Ruf bemüht war, ließ ihren Kampfroboter von der Leine. Der schießt ferngesteuert aus allen Rohren und Kalibern und überwindet dabei noch Hindernisse. In den Kampfzonen dieser Welt werden folglich die bösen Aufständischen immer weniger gegnerischen Soldaten, dafür aber Jets, Laser-Pointer- und Gewehren, Drohnen und eben Kampfrobotern begegnen. Und ihnen trotz freiheitlichem Begehren auch unterliegen. Das dürfte genauso frustrieren wie der Cyberkrieg, der Gegner, resp. deren Bilder abstrahiert/virtualisiert, um im Gegenzug stuxnette Würmer, Viren oder Bundestrojaner in x-beliebige Richtungen auszuschütten. Bleibt die schmutzige Bombe, bleiben die Hightech-Waffen, mit denen präzise daneben seziert wird. Ihnen dürfte die Zukunft gehören. Schmutzig klingt einfach und nach Aktentasche, präzise und seziert wie das Märchen vom Hightech-Fleischermesser. Doch was macht das? Das Gros der Bürger hat sich darauf eingelassen, Krieg als unvermeidlich zu akzeptieren. Und man begnügt sich mit der Freude über einen, der vor der Zeit zu Ende geht. Die Schar der Akteure reagiert meist gespalten. Die einen verschwinden ungesehen, um zu vergessen. Andere pöbeln, prügeln oder morden nach ihrer Rückkehr http://www.spiegel.de/politik/ausland/britische-studie-junge-kriegsveteranen-neigen-oft-zu-gewalttaten-a-889193.html. Der Rest ist gänzlich geschädigt und deshalb schnell abgemeldet http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Afghanistan/ptbs2.html. PTSB ist bis heute nicht heilbar, auch nachwachsende Gliedmaßen sind nicht in Sicht. Wer hier ein Nachhinken der Rekonveleszenz-Techniken hinter den Fähigkeiten der Waffen-Narren vermutet, hat Recht und irrt dennoch. Weil die Wiederherstellung von Menschen aus (weitgehend) mannlosen Kriegen im Grunde entfällt – und die Probleme des Gegners Probleme des Teufels sind und damit … irrelevant bleiben.

Nachtrag vom 13. Mai 2013: „Kein Mensch braucht Krieg“ – unter diesem Motto ist de Maiziere, der an der Humboldt-Uli, Berlin, einen Vortrag zum Thema „Bundeswehr“ halten wollte, am 10. April von Studenten niedergebrüllt worden. Das hatte ohne Zwiefel auch mit der Problematik „Drohnen“ zu tun. Die Süddeutsche Zeitung hat dem Thema in ihrerer Wochenendausgabe vom 11./12.Mai 2013 eine ganze Druckseite gewidmet. Fazit: Wenn die Deutschen die bewaffneten Drohnen nicht wollen, dann dürfen sie auch keine Soldaten außerhalb Deutschlands in Kampfeinsätze schicken. Na bitte, ist doch toll diese Empfehlung!

Die widerliche Aura des Militarismus“, Teil 1

Nachtrag vom 23. Mai 2013: Die Zahl der PTBS-Erkrankungen in der Bundeswehr sei von 245 (2008) auf heute mehr als 1143 (2012) gestiegen. Nahezu jeder zweite Fall bleibe unbehandelt – so das Nachrichtenmagazin Frontal21 http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1897216/Kranke-Soldaten-Vom-Vaterland-vergessen#/beitrag/video/1897216/Kranke-Soldaten-Vom-Vaterland-vergessen

 

Bleibt Venezuela rot?

Ich hätte mir ein deutlicheres Ergebnis gewünscht. Was Nicólas Madura am Sonntag hingelegt hat, war und ist katastrophenverdächtig. Er hat gegenüber seinem Vorgänger Chaves fast 5% der Stimmen verloren http://www.taz.de/Praesidentenwahl-in-Venezuela-/!114536/. Und dennoch freut mich dieser knappe Sieg. Immerhin hängt vom Wahlausgang ab, ob Venezuela dem westlichen Wirtschaftsmodel oder aber dem neuen Model sozialistischer Prägung folgt. Die Unterschiede zwischen beiden Optionen sind groß, in wichtigen Bereichen aber durchaus überbrückbar. Allerdings können die Einnahmen des Staates (u. a. die Erlöse aus den Erdöleinnahmen) nicht zweimal verteilt werden. Woraus folgt, dass die Reichen im Lande auf bisherige Pfründe (Steuerleichterungen, bessere Bildungschancen, Gesundheitsversorgung etc.) zumindest teilweise verzichten mussten und weiterhin müssen. Insider wissen, dass der Gini-Koeffizient – er beschreibt die Einkommensunterschiede im Lande – in Latein- und Südamerika weltweit am höchsten ist und nicht nur in Venezuela der Korrektur bedurfte/bedarf. Hugo Chaves hatte 2001 über einen 30 Millionen-US-$-Fond dreißig sogenannte „bolivarische Missionen“ gestartet, die große Teile der Bevölkerung aus dem Elend befreiten sowie Bildung, Gesundheitsfürsorge, Umweltschutz etc. vermittelten – meist gegen den Widerstand der bestehenden Institutionen, die er erst 2003 in die Knie zwang. Kurz nach Chaves’ Amtsantritt lebten nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission knapp 50 % der Bevölkerung Venezuelas in Armut. Im Jahr 2006 war diese Quote auf 30 % gesunken. Der Gini-Koeffizient sank von 0,5 auf 0,44. Dies ist unter anderem den eben erwähnten Missionen zu verdanken. So haben die Armen kostenlosen Zugang zu zahlreichen Medikamenten, darunter retroviralen Cocktails gegen AIDS. 15 Millionen Menschen werden durch die Mercal-Supermärkte mit verbilligten Lebensmitteln versorgt. Die Lebenserwartung stieg von 72,18 Jahre (1999) auf 73,18 Jahre (2004); die Kindersterblichkeit konnte von 18,5 Promille auf 16,8 Promille im Jahr 2004 gesenkt werden. Die Arbeitslosigkeit reduzierte sich von 16,6 % (1999) auf 11,5 % (2005) – vor allem, weil die Regierung (z. B. im Rahmen der Misión Vuelvan Caras) die Gründung von Kooperativen anregte und deren Produkte bevorzugt aufkauft. Die Analphabetenquote wurde nach Angaben des Bildungsministeriums in wenigen Jahren von 6,12 auf 1 % gesenkt http://de.wikipedia.org/wiki/Bolivarianische_Missionen. Im Gesundheits- und Bildungswesen waren es vor allem kubanische Ärzte und Lehrer, die großzügige Unterstützung gewährten – vor allem dort, wo sich venezolanische Experten weigerten, in Elendsquartieren Hilfe zu leisten.

Eine neue Regierung unter dem Oppositionsführer Henrique Capriles Radonski würde zweifellos viele der von Chaves durchgeführten Reformen annulieren, die Reprivatisierung von Ölförderanlagen und Raffinerien beschließen und die auf Eis liegenden Verbindungen zu den USA wieder aufnehmen. Ja, mehr noch: Capriles könnte die Mitgliedschaft in den von linken Regierungen dominierten Bündnissen ALBA und CELAC aufkündigen http://amerika21.de/audio/48752/alba-celac. Was das bedeutet hätte, kann sich jeder, der Grundkenntnisse über Lateinamerika besitzt, schnell ausmalen. Venezuela ist als erdölreiches Land der Dreh- und Angelpunkt für die wirtschaftliche Entwicklung auch der Nachbarn. Vor allem Kuba, Ecuador und Bolivien profitieren von der großzügigen Unterstützung, aber auch arme Familien in den USA, denen Maduros Vorgänger immer mal Heizöl für den Winter herüberschipperte. Das unter Chaves sichtlich erstarkte Bündnis zwischen Venezuela, Ecuador, Bolivien und Kuba hat auch in den anderen latein- und südamerikanischen Ländern Spuren hinterlassen. Argentinien, Brasilien, Peru, El Salvador und Nikaragua sympathisieren offen mit dem neuen sozialen Experiment, andere Staaten scheuen zumindest jede Konfrontation. Auch der Wirtschaftsverbund Mercosur, dem Argentinien, Brasilien, Paraguy und Uruguay angehören, hat sich inhaltlich gewandelt. In den Augen von USA-Experten gilt er inzwischen als amerikafeindlich. In der Tat: Konfiguration und Kräfteverhältnisse südlich der Vereinigten Staaten haben sich grundlegend verändert – was zweifellos mit der Jahrzehnte währenden ausbeuterischen Politik des großen Nachbarn zu tun hat. Was United Fruit & Co. nach dem 2. Weltkrieg nicht zerstören konnte, schlugen die Chikago-Boys und die von ihnen gesteuerten Diktatoren, Rauschgifthändler und Todesschwadronen platt . Che Guevara, Allende, Victor Jara und vielleicht auch Pablo Neruda sind darüber zu Tode gekommen http://www.otz.de/startseite/detail/-/specific/Leiche-von-Pablo-Neruda-wird-exhumiert-160029937. Wer diese Zusammenhänge kennt, weiß sehr schnell, wie wichtig Wahlergebnisse in Venezuela sind. Und er kann sich das Ausmaß westlicher Unterstützung für Capriles Radonski vorstellen. Nun, dieser Mann musste sich geschlagen geben, was jetzt wegen des knappen Ergebnisses für Zeter und Mordio sorgt. Dass Maduras Gegner über 49% der Stimmen holte, ist überaus ernst zu nehmen. Denn die Zahl vermittelt, dass in Venezuela ein Riss mitten durch die Gesellschaft geht, sprich: die Zahl der Gegner immens ist. Wenn Madura den Kurs von Chaves erfolgreich fortsetzen möchte, bedeute das nicht nur viel Arbeit und reformerisches Denken, sondern vor allem auch Konzessionen an seine Gegner. In einer ständigen Konfrontation nämlich kann nichts gedeihen. Hier gilt es, mit parteiübergreifenden Lösungen sehr viel mehr Menschen vom neuen Weg zu überzeugen bzw. abgefallene Wähler zurückzugewinnen. Andererseits müssen die „positiven Errungenschaften“ (Ergebnisse der Missionen etc.) konsequent geschützt werden – notfalls unter Einsatz des Militärs.

Dass die westlichen Medien die Verdienste von Chavez mehrheitlich ignorierten und heute zu immer neuen Rufmordkampagnen gegen Maduro antreten, ist das Ergebnis dieser Gemengelage. Was man den beiden vorwirft, ist beispiellos und doch nur ein Remake dessen, was auch Allende oder Castro erlebten/erleben: Durch die erbrachten Sozialleistungen sei die Wirtschaft des Landes geschädigt worden (Originalton ARD vom 14, April 2013). Man habe Oppositionelle mundtot gemacht und eingekerkert und der überbordenden Kriminalität im Lande wenig entgegengesetzt. Wahr ist, dass Chaves gegen all diejenigen Front machte, die ihn unmittelbar angriffen, für Kapitalverbrechen und andere feindliche Aktionen gegen Staat und Gesellschaft verantwortlich waren und Lügen verbreiteten. Tatsächlich sind neben vielen Kriminellen auch einige Oppositionelle festgesetzt worden. Wobei die meisten von ihnen später amnestiert wurden. Leider begreift man im Westen nicht, dass strukturelle Verbesserungen zu Gunsten der Unterprivilegierten auch administrative Härten und unverhältnismäßige Eingriffe mit sich bringen. Beides gibt es, wenn auch in umgekehrter Färbung, auch in unseren sogenannten Demokratien – täglich und immer wieder. Ärgerlich ist, dass sogenannte Menschenrechtsorganisationen, aber auch Amnesty International statt der Gesamtsituation nur einzelne Härtefälle im Auge haben und diese zuweilen aufbauschen. Bestes Beispiel: die im Hausarrest befindliche Richterin Maria Lourdes Afiuni . Chaves hatte sie wegen Korruption anklagen und (angeblich) zu 30 Jahren Gefängnis verurteilen lassen, weil sie zwei politische Gegner Chaves’ frei ließ. Jetzt wurde die Strafe in Hausarrest umgewandelt – was bei der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte auf die Schlagzeile „Hausarrest statt medizinischer Versorgung“ hinausläuft http://www.igfm.de/laender/lateinamerika/venezuela-hausarrest-statt-medizinischer-versorgung/. Die Diskreditierung der Wahlsieger ist also Programm. Natürlich muss sich jedes Land um die Einhaltung fundamentaler Menschenrechte nicht nur kümmern, sondern sie strikt einhalten. Das gilt auch in Venezuela und wird genauso wahrgenommen. Wenn allerdings aus Einzelschicksalen politische Kapital geschlagen wird, wenn schließlich die Gesamtsituation eines Landes an höchst untypischen Vorfällen festgemacht werden soll, ist Schluss mit lustig. Schließlich hilft jede verleumderische Attacke dem äußeren Feind, den US-Amerikanern, die ihren früheren Einfluss auf Latein- und Südamerika wieder herstellen wollen, den Europäern, die die ALBA- und CELAC-Länder in ihrem ausbeuterischen Freihandel zwingen möchten und den zahllosen Ölgesellschaften, die ihre Saugnäpfe bereits auf das venezolanische schwarze Gold programmiert haben.

Dass Venezuela über immense, ja vielleicht sogar über die größten Erdölvorräte der Erde verfügt, ist brisant. Folglich wird das Land auch in Zukunft von massivem Störfeuer all derer bedroht, die vor allem eines fürchten: dass sich der junge Sozialstaat auf Basis seines Bodenschatzes auf ewig etablieren und weitere Länder in die antiwestliche Allianz einbinden könnte.

Wenn Sie also künftig die Zeitung aufschlagen und Hasstiraden gegen Nicólas Maduro begegnen, dann bleiben Sie bitte ruhig. Das meiste davon ist übertrieben oder

… gelogen.

Nachtrag vom 21. April 2013: Die Wählerstimmen werden neu ausgezählt.

 

Steinbrück hat die Hyänen von der Leine gelassen

Stichwort Hypo Real Estate (HRE). Dass sie überhaupt gerettet werden musste, wird bis heute bezweifelt. Möglicherweise wäre ein Zusammenbruch a la Lehmann Brothers mit Blick auf notwendige Reformen des Bankensektors heilsamer gewesen. Die Frage der Abwägung zwischen dem Getanen und dem wahrscheinlich Zweckmäßigeren stellt sich nicht – oder allenfalls theoretisch. Indiskretionen brachten es knapp ein Jahr nach dem spektakulären September 2008 an den Tag: Vor allem die Hauptgläubiger der Hypo Real Estate – die Allianz, die Münchener Rück, die Bayrische Landesbank, die HypoVereinsbank, die Deutsche Bank und die Commerzbank – hätten beim Absturz der HRE gigantische Geldmengen abschreiben müssen: 5 Milliarden Euro, 4 Milliarden Euro, 3 Milliarden Euro, und je 1-2 Milliarden Euro. Kein Wunder also, wenn gerade sie den systemischen Status der Hypo Real E. so dramatisch einforderten. Wie heiß es wirklich brannte, werden wir nie erfahren. Die Bundesregierung hat ihre Rettungspakete (so auch das für die HRE) in völliger Intransparenz und ohne jede parlamentarische Kontrolle installiert. Nur neun Bundestagsabgeordnete haben unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit Einblick in die Maßnahmen des in diesem Zusammenhang gegründeten Finanzmarktstabilisierungsfonds/des SoFFin. Deshalb weiß die Öffentlichkeit nichts darüber, welche Banken mit welchen Summen gestützt werden, welche Manager für welche Verluste verantwortlich sind und unter welchen Modalitäten die Staatshilfen vergeben oder verweigert worden sind (Attac-Reader vom April 2010: »Das Bankentribunal – weil die Krise System hat« – http://www.attac.de /aktuell/krisen/bankentribunal/weiterlesen/).

Unterm Strich. Peer Steinbrück ist maßgeblich für die mit der Finanzkrise einhergehenden Katastrophen verantwortlich. Um es genau zu sagen: Er hat die Hyänen von der Leine gelassen.

Gehen wir zurück ins Jahr 2003.  In der damals gegründeten »Initiative Finanzstandort Deutschland« sitzen von diesem Zeitpunkt an Großbanken und Versicherungen gemeinsam mit dem Bundesministerium für Finanzen und der Bundesbank an einem Tisch. Damals powerte die rot-grüne Bundesregierung auf Druck der Finanzlobby zwei Vorhaben. Deren Ziel war es, die Verbriefung von Bankkrediten und Kreditrisiken auch in Deutschland zu ermöglichen. Zum einen ging es um den »Finanzmarktförderplan«, der Hedgefonds in Deutschland zuließ und unbegrenzte Leerverkäufe erlaubte, zum anderen um die Stützung der von 13 Banken ins Leben gerufenen Lobby-Organisation »True Sale Initiative«, die sich für die Deregulierung des Derivatemarktes einsetzte. Gleichzeitig wurde das »Kleinunternehmensförderungsgesetz« verabschiedet, das den Banken in Offshore-Zentren die Ansiedlung von so genannten Zweckgesellschaften ermöglichte. Diese sogar staatlich subventionierten Einrichtungen (»Conduits«) befassten sich ausschließlich mit den o. a. Verbriefungen, die aus den Bankenbilanzen offiziell ausgegliedert werden durften und der Finanzaufsicht entzogen waren (!). Ja mehr noch: Die Gewinne aus diesen Aktivitäten, die bei anfänglich erfolgreicher Spekulation milliardenschwer zu Buche schlugen, blieben frei von jeder Gewerbesteuer (!). http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/100329_Bankentribunal_Anklageschrift.pdf. Die so privilegierten, sprich: mit nahezu jeglicher Freiheit ausgestatteten Finanzinstitute versprachen eine wichtige Gegenleistung. Sie wollten den deutschen Landen treu bleiben (also nicht in Richtung der lukrativen Märkte – Großbritannien und USA – abwandern) und den deutschen Mittelstand sehr viel großzügiger als bisher mit Krediten versorgen (ARD/«Kontraste«, 26. August 2010). Peer Steinbrück, der der großen Koalition von 2005 bis 2009 als Finanzminister angehörte, hat dann im Verbund mit den Länder-Ministerpräsidenten zugelassen, dass auch die Landesbanken massiv in die riskanten Verbriefungsgeschäfte einstiegen. Unter dem Strich hatten die rechten SPD-Führer, die bis 2005 an der Macht waren und danach weiter an der Regierung partizipierten, die Arbeit des politischen Gegners getan, sprich: den Protagonisten der deutschen Finanzwirtschaft Tür und Tor geöffnet. Dass dies mit Hinweis auf die renditeraffende Konkurrenz im Ausland geschah, versteht sich – dass Finanz-Politiker die Risiken eines solchen Spieles nicht begriffen haben, keinesfalls. Wer den Hund von der Leine lässt, muss wissen, ob der Pudel oder Pitbull ist und was er anzurichten vermag. Nein, diesen Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht, diesen Vorwurf gegen Schröder und Steinbrück im Besonderen, wäscht niemand ab. Wenn der Ex-Finanzminister heute darauf verweist, dass sowohl er als auch Merkel Reformen der internationalen Finanzarchitektur angemahnt haben, stimmt das formal. Sicher wissen beide, was auf diesem Sektor – zumindest aus ihrer Sicht– geschehen müsste. Die Liste existiert, doch auch dem jetzigen Verbund Merkel/Schäuble gelingt es nicht, auch nur Teile davon umzusetzen – selbst in der EU nicht. Auch hier vernebelt Steinbrück, der manches … als erreicht, einiges als nicht durchsetzbar und vieles in Arbeit sieht. Welch Schönfärberei! Von dem, was Experten im Sinne einer durchgreifenden Finanzmarktreform für nötig erachten, ist bis heute fast NICHTS realisiert, und ebenfalls nichts spricht dafür, dass es an irgendeiner Stelle zu einschneidenden Veränderungen kommt. Peer Steinbrück muss man folglich mehr vorwerfen als er selbst an Fehlern zugibt. Sie lesen richtig: Steinbrück übt in seinem Buch „Unterm Strich“  auch Selbstkritik. Ob er das tut, um lauter/wahrhaftiger zu wirken, ist schwer auszumachen. Der flüchtige Leser wird ihm da schnell Pluspunkte zuwerfen. Ich sehe das gemischt. Denn die Kritikpunkte sind so gravierend, dass sich Steinbrück quasi rückwirkend des Postens enthebt. Denn was moniert er an sich selbst? Dass er nichts zur Umstrukturierung der Landesbanken unternahm und damit deren spekulative Aktivitäten indirekt unterstützte, die mit dem »Finanzmarktförderplan« und dem »Kleinunternehmens- förderungsgesetz« ausufernde Spekulation sämtlicher deutscher Banken nicht rechtzeitig erkannte, geschweige denn eindämmte und dem Thema »Bankenaufsicht« zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Da fragt man sich doch: Gehört nicht eben das, was Steinbrück offenbar un- terlassen/vernachlässigt hat, zu den wichtigsten Aufgaben eines Bundesfinanzministers? Und ist es nicht ziemlich fies, den Eindruck zu erwecken, als gehörten Globalisierung, die komplizierten Verwerfungen im internationalen Finanzsystem und die Agenda 2010 wie selbstverständlich zum Kapitalismus, der in unseren Zeiten eben anders ticke als früher, eben harscher und dann auch chancenreicher. Steinbrück betrügt uns offenbar. Denn weder macht er brauchbare Vorschläge zu einem neuen, nachhaltigen Wirtschaftssystem, noch thematisiert er den teuflischen Circulus vitiosus, dem das Finanzsystem seit eh und je ausgesetzt ist. Die Banker beteuern heute, dass es unmöglich sei, die mit dem Staat vereinbarten Maßnahmen zur Rettung ihrer Institute demokratisch zu kontrollieren, sprich: ihre Inhalte und ihr Zustandekommen offen zu legen. Weil dann die Märkte wie verrückt darauf reagierten und »noch Schlimmeres« anrichten würden. Deshalb sei die rigide Geheimhaltung unverzichtbar – und der Staat müsse sie abnicken. In einer solchen Lage aber ist unbedingt davon auszugehen, dass Banker bestimmen, was zur eigenen und zur »Systemheilung« notwendig ist. Nämlich die Fortsetzung dessen, was immer geschah: weiteres Wirtschaftswachstum nach altem Muster, weitere Spekulation, weitere Vermögensverteilung von unten nach oben – mit exponentieller Entwicklung der großen Vermögen, erneuter Rettung aus geplatzten Finanzblasen zu Lasten der Steuerbürger und … und … und …

Kaum einem Politiker ist zuzutrauen, dass er die komplizierten Zusammenhänge fachlich sortieren und im Zweifelsfall Widerstand leisten kann. Wie auch sollte er Verantwortung für den möglichen Absturz übernehmen, wenn dieser unter Nichtachtung der Bankerstimmen tatsächlich eintritt. Es bedürfte schon genialer Fähigkeiten und eines neuen Menschentyps, um hier durchzudringen. Doch wie sollte ein solcher Sonderling in die Arena der Macht vorstoßen? Jeder heute aufs »Spielfeld« delegierte Finanzpolitiker gerät zwangsläufig zur Galionsfigur der Branche. Strafrechts-Experte Prof. Peter-Alexis Albrecht wörtlich: »Man kann sagen, dass das, was die Finanzlobby will, in diesem Land auch politisch umgesetzt wird.« (ARD/«Kontraste«, 26. August 2010). Wenn folglich alles nach dem Gusto der Banken, genauer: nach dem Willen der internationalen, vor allem US-amerikanischen und britischen Geldhäuser läuft, ist die gesamte Welt einem sich ständig beschleunigenden Kreisel aus persönlicher Gier, aus Machtansprüchen, politischer Vereinnahmung und daraus resultierender zunehmender Differenzierung zwischen Arm und Reich ausgesetzt. Dazu, wie dieses System funktioniert und schließlich ex- oder implodiert, hat Steinbrück nichts gesagt.

Doch zurück zu den eigentlichen – oder besser gesagt – angeblichen Reform- anstrengungen. Ich sagte es bereits: Weder Merkel noch Schäuble werden hier etwas ausrichten. Ja, ich gehe sogar weiter: Sie dürfen es auch gar nicht wollen. Denn nicht nur die Machtambitionen in New York und London stören, auch Ackermann hat ausdrücklich davor gewarnt, den deutschen Banken zusätzliche Lasten aufzuerlegen. Und ganz sicher will dieser Mann nicht nur nachziehen, sondern souverän am neuen Spiel teilhaben. Im Klartext: Nicht nur die Wall Street und die Londoner Börse entziehen sich erfolgreich fast allen Regulierungen, auch die Deutsche Bank drängt nach der alten Freiheit. Immer aber, wenn es ums Bezahlen geht, ja um die Teilnahme der Banken an der großen Schuldentilgung, dann herrscht Schweigen. Völlig unverständlich ist dann auch, dass Steinbrück in seinem Buch („Unterm Strich“) von beachtenswerten Anstrengungen der Banken spricht. Einfach, weil deren Beteiligung an der HRE-Rettung größer sei als der jährliche Gewinn. Wen aber interessiert das? Entscheidend ist doch wohl der Vergleich zwischen den Verbindlichkeiten der HRE (gegenüber der jeweiligen Bank) und den jeweils zur Rettung aufgebrachten Mitteln. Das am 25. August 2010 von der Bundesregierung verabschiedete Gesetz zur Abwendung künftiger Pleiten (» Gesetz zur Reorganisation von Kreditinstituten«) mutet ebenfalls wie ein Pflaster auf dem Tranchierschnitt an. Denn niemand wird im Ernst annehmen, dass man die Branche, die jährlich nur magere 1 Milliarde Euro abgeben bzw. »ansparen« will, damit im Notfall retten könnte (»tagesschau.de/rbb«, 25. August 2010). Ähnlich kläglich versacken die Bemühungen um eine Erhöhung des Eigenkapitals von Banken. Hier werden 5-6% angestrebt, doch 5-6% wovon? Diese Frage wird von denen, die betroffen sind, in immer abenteuerlicherer Weise beantwortet – natürlich mit dem Ziel, die Kapitalbindung im Hause zu minimieren. Denn was fest liegt, ist für die Spekulation verloren. Und so pokern die, die jetzt mit Basel III befasst sind, munter weiter. Gehören zur Bezugsgröße nur gehaltene Aktienpakete und einbehaltene Gewinne oder auch Hybridprodukte und … ??? Das aber hat kaum mehr mit Steinbrück zu tun. Es sei denn, man stylt ihn zum Kanzlerkandidaten – einer SPD, die (Sie ahnen es bereits) erst einmal an die Macht kommen und dann stärkste Partei sein muss.

Nachtrag vom 16. Juli 2011: Insgesamt dreizehn Banken wurden im Juli einem Stresstest unterzogen um festzustellen, ob sie gegen künftige Krisen ausreichend gewappnet sind. Kriterium war die sogenannte »Kernkapitalquote im Stressfall«. Einzig die Landesbank Hessen Thüringen (Helaba) bestand diese Prüfung nicht. Allen anderen wurde mit Quoten von 5,5-10,4 % Tauglichkeit bescheinigt (»Rheinische Post«, 16. Juli 2011). Zweifellos hat die Branche sich und den Bürgern etwas vorgemacht. Denn ein nahe liegender Ernstfall wurde nicht berücksichtigt: die Pleite von Griechenland.

 

Die Schockstrategie

Naomi Klein: Die Schockstrategie, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M., 2009, ISBN: 978-3-596-17407-2
http://www.amazon.de/Die-Schock-Strategie-Katastrophen-Kapitalismus-Naomi-Klein/dp/3100396111

In ihrem 2009 erschienenen Buch attackiert die Autorin die rigorosen Strategien der neoliberalen Chicagoer Schule.
An deren Spitze stand bis 2006 der Wirtschaft-Nobelpreisträger Milton Friedman, der als Antipode von John Meynard Keynes für einen deregulierten freien Markt, eine weitgehende Einschränkung der staatlichen Macht/Einflussnahme und ein Minimum an staatlichen Sozialleistungen plädierte – und diese Vorstellungen mit Hilfe seiner Schüler auch massiv umzusetzen versuchte: in Chile, Bolivien, Argentinien, in den ostasiatischen Tigerstaaten, in Polen, Russland, China, im Irak, in Südafrika, in Israel etc. Mehr als drei Jahrzehnte lang hatten Friedman und seine mächtigen Anhänger ihre so genannte „Schockstrategie“ perfektioniert: Auf eine große Krise oder einen Schock warten, dann den Staat an private Interessenten verfüttern, solange die Bürger sich noch vom Schock erholen, und diesen „Reformen“ rasch Dauerhaftigkeit verleihen (S. 17).
Friedman & Co. glaubten also, dass vorhandene Strukturen radikal beseitigt und „auf der Basis von Null“ durch neue, Friedmansche ersetzt werden könnten. Ein fataler, zumeist blutiger Irrtum! Bis heute – so vermittelt uns Naomi Klein – habe der Versuch, den so genannten „Washington Consensus“ einzupflanzen, nur jeweils Wenigen genützt, für die Masse der Menschen hingegen meist Unglück, Not und Vernichtung generiert. Zeitgleich sei die Schere zwischen arm und reich massiv aufgesprungen.
Ein spektakuläres Buch mit schonungsloser Analyse und überzeugender Aussage !
Ulrich Scharfenorth

Die folgenden Zitate wurden dem Buch in ungeordneter Folge entnommen. Sie gründen auf persönlichen Erfahrungen/Erkenntnissen der Autorin – die mit einem „Heer von mehr als 100 Mitstreitern“ sämtliche Sachverhalte vor Ort recherchieren lies oder selbst recherchierte.
• Milton Friedman empfahl (dem chilenischen Diktator) Pinochet einen Umbau der Wirtschaft im Schnellfeuertempo – Steuerkürzungen, Freihandel, Privatisierung von Dienstleistungen, Einschnitte bei den Sozialausgaben und Deregulierung. Chile wurde unter Pinochet zum Pionier einer Weiterentwicklung des Korporatismus: Eine sich wechselseitig stützende Allianz von Polizeistaat und Großunternehmen, die mit vereinten Kräften gegen den dritten gesellschaftlichen Machtfaktor – die Arbeiter – Krieg führt und dabei ihren Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand kräftig erhöht […]. Als sich die Wirtschaft im Jahr 1988 (also nach dem „Schock-Experiment“) endlich stabilisiert hatte und rasch wuchs, lebten 45 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Einkommen der reichsten 10% Chilenen waren jedoch um 83 % gestiegen (S. 124) Die Schockstrategie weiterlesen

Vergesst Obama!

 

Spätestens seit dem  2. Mai 2011 ist klar, dass ein Schwarzer – wollte er weiterhin Präsident der USA sein – ungleich straighter auftreten muss als weiße Schwachköpfe à la Bush jun. Und so wie Mr. Präsident  da gemeinsam mit Hillary Clinton im Situations Room des Weißen Hauses – kamerafixiert und für die Weltöffentlichkeit sichtbar – dem Einsatz des von ihm befohlenen Killerkommandos folgte (http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,760622,00.html), ist er schon aus dem Schatten seiner Vorgänger herausgetreten. Spätestens seit dem 2. Mai ist klar, dass unser Bild von Obama  genauso mutiert, wie ich das in „Störfall Zukunft“ vor 30 Monaten vorausgesagt hatte (S. 463 ff.). Dieser Mann, der im Wahlkampf zum Vorkämpfer für ein neues Amerika hochstilisiert wurde und dazu selbst kräftig beitrug, ist alles andere als ein Hoffnungsträger für diese Welt. In den USA mag man das anders sehen, weil die Ereignisse des 11. September 2001 einen direkten Pool aus Schmerz und unbefriedigten Rachegelüsten hinterließen. Doch es waren ganz augenscheinlich weniger die Angehörigen der Opfer, die den Tod Bin Ladens bejubelten, es war der von den Medien aufgeputschte Mob.

Barack Obama hat mit der Intensivierung des Afghanistankrieges, den ferngesteuerten, völkerrechtswidrigen Attacken von US-Drohnen gegen Pakistan (die Zahl der getöteten Zivilisten wurde per 5. Mai 2011 mit dreiundfünfzig sicher zu niedrig angegeben) und der Bombardierung Libyens eine neue Blutspur gezogen. Er hat die Signale der sogenannten arabischen Befreiungsbewegung undifferenziert verkannt und im Westjordanland den israelischen Siedlern das Feld überlassen. Man darf auch vermuten, dass von den Geheimdiensten weiter gefoltert wird – ohne ausdrückliche neue Befehle und  … im Ausland (http://www.wdr.de/tv/monitor/sendungen/2011/0505/terror.php5).  Guantanamo –  wo mindestens 150 Gefangene unschuldig einsaßen und z. T. auch heute noch einsitzen – besteht weiter (http://www.taz.de/1/netz/netzpolitik/artikel/1/unschuldige-sassen-jahrelang-ein/). Dass die Opfer nur deshalb nicht freigelassen werden, weil sich niemand findet, der sie aufnimmt, ist grotesk.

Was also hat Obama – abseits einer halbherzigen, noch keineswegs gesicherten Gesundheitsreform und untauglicher Finanzmarktregeln – zu Stande gebracht?

Wo und wie ist er anders als bisherige US-Präsidenten?

Mir fällt da nichts ein.

Amerika bleibt – ob nun mit oder ohne Obama – ein Land mit Vormachtanspruch, ein Land, das mit Microsoft, Apple, Google etc. im Internet herrscht … das eine Vielzahl übermächtiger Global Player, die drei maßgeblichsten Rating-Agenturen der Welt, die fiesesten Rüstungsgüter, die weltgrößte Militärmaschinerie und das Abhörsystem Echelon etc. gegen die Restwelt ausschickt …,

das mit Schulden von gut 14 Billionen US-$ kurz vor dem Kollaps steht und damit eine reale Gefahr für die Finanz- und Realwirtschaft der gesamten Welt darstellt (http://www.abendblatt.de/wirtschaft/article1751239/Die-14-Billionen-Dollar-Frage-der-USA.html) …,

das seine Bevölkerung ungefragt mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln zuschüttet und  40 Millionen seiner Bürger dem radikalen Evangelismus ausliefert.

Dort, wo der Rauschgiftkonsum einsame Rekorde feiert, wo es jährlich mehrere tausend sexuelle Übergriffe gegen weibliche Militärangehörige gibt, wo mehr als 200 Millionen Waffen in privatem Besitz sind und pro Kopf der Bevölkerung achtmal so viele Leute eingelocht werden wie im europäischen Durchschnitt, wo Städte wie Maywood, Oakland, San Diego etc. einfach verkommen, wo deutsche Au Pairs immer mal gefragt werden, ob es in Germany auch Autos oder doch eher Regenwälder gebe, dort also … hat Obama gerade seine höchste Wertschätzung erfahren.

(http://www.sueddeutsche.de/digital/echelon-berunruhigt-das-europa-parlament-die-big-brother-hotline-1.622678)

http://programm.ard.de/TV/Programm/Jetzt-im-TV/weltbilder/eid_287216400135086?list=themenschwerpunkt&start=21;

http://www.sueddeutsche.de/wissen/privater-waffenbesitz-mehr-schusswaffen-mehr-opfer-1.833490;

http://de.wikipedia.org/wiki/Gefangenenquote;  http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/services/nachrichten/ftd/PW/60047559.html;

„Rheinische Post“/Regionalteil Ratingen, 23. Juni 2011).

 

Nachtrag vom 24. Juni 2011: Am 13. Juni wurde in den USA ein streng gehütetes Staatsgeheimnis gelüftet: Der Vietnamkrieg war illegal. Er wurde unter falschen Voraussetzungen begonnen, mit Lügen fortgesetzt − und zu gewinnen, auch das wird jetzt offiziell bekannt gemacht, war er auch nicht. Ganz neu ist die Erkenntnis nicht: Vor genau vierzig Jahren stahl ein ehemaliger Elitesoldat, der Regierungsberater Daniel Elsberg, die hoch geheimen „Pentagonpapiere“, kopierte sie und trug sie zur New York Times, die sie nach einigem Zögern veröffentlichte. Präsident Nixon persönlich versuchte, die Zeitung zu verbieten. Elsberg wurde als Landesverräter verhaftet und wäre beinahe für Jahrzehnte im Gefängnis verschwunden. In Vietnam aber starben Millionen Vietnamesen und fast 60.000 Amerikaner.

Derzeit beschäftigt ein ähnlich gelagerter Fall die USA. Wieder ist ein Soldat, diesmal der Obergefreite Bradley Manning, auf erschreckende Missstände/Verbrechen gestoßen. Die diesmal nicht über die Presse, sondern über den inzwischen inhaftierten Julian Assange  und Wikileaks an die Öffentlichkeit gelangten (http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,750257,00.html). Wir wissen, dass im betreffenden Dossier von fundamentalen Menschenrechtsverletzungen und anderen tödlichen Übergriffen der US-Army die Rede ist – in einem Krieg, der ähnlich wie der in Vietnam … unter falschen Voraussetzungen begann, mit Lügen fortgesetzt wurde und nicht zu gewinnen ist.

Obama nun tut nichts, um dem unter unwürdigen Umständen eingekerkerten Bradley Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen (http://www.sueddeutsche.de/politik/wikileaks-informant-bradley-manning-held-hinter-gittern-1.1107592). Im Gegenteil: Er billigt die laufende Prozedur. Und fährt dafür – ebenso wie für die Bin-Laden-Show – Pluspunkte ein. Der mittlerweile achtzigjährige Ellsberg missbilligt Obamas Verhalten ausdrücklich, ja er nennt es einen Verstoß gegen die amerikanische Verfassung („Süddeutsche Zeitung“, 11./12./13.Juni 2011).

Der US-amerikanische Philosoph Noam Chomsky  ging vom 6. – 8. Juni 2011 in der Kölner Universität einen Schritt weiter. Wörtlich formulierte er: „Seit der Monroe Doktrin 1823 betrachteten die Vereinigten Staaten die Welt als politische und wirtschaftliche Verfügungsmasse, den eigenen Interessen untergeordnet oder noch unterzuordnen.“

Kersten Knipp, der Chomskys Vorlesungen beiwohnte, spürte einmal mehr dessen Grundannahme. Knipp wörtlich: „Die Außenpolitik der USA ist die Wurzel aller Übel weltweit. Ändert sich diese Politik, steht es auch um die Welt als Ganzes besser“ („Süddeutsche Zeitung“, 10 Juni 2011).

Auszug aus „abgebloggt“ , Heiner Labonde Verlag 2011, S. 368 ff.

Gemeinwohl-Ökonomie

Christian Felber: Gemeinwohl-Ökonomie – Das Wirtschaftsmodell der Zukunft, Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2010, ISBN: 978-3-552-06137-8

http://www.amazon.de/Die-Gemeinwohl-%C3%96konomie-Das-Wirtschaftsmodell-Zukunft/dp/3552061371

Es gibt eine Alternative zu den realsozialistischen Irrwegen und zum Kapitalismus, der uns in die Krise geführt hat. So der nüchterne und dabei zutiefst spannende Epilog des vorliegenden Buches. Christian Felber komme – so der (leider anonyme) Ausrufer – mit einem fundamentalen Neuansatz. Und tatsächlich: Das, was der Autor in seinem Buch anbietet, unterscheidet sich von den landläufigen Betrachtungen zu Wirtschaft und Finanzwesen signifikant – weil es die traditionellen Triebfedern der „freien“ Marktwirtschaft – die Kombination aus Gewinnstreben und Konkurrenz – durch einen neuen „mehrheitsfähigen Leitstern“ mit den Grundwerten Vertrauensbildung, Kooperation, Solidarität und Teilen ablöst. Felber weiß, dass die Konkurrenz im derzeitigen Getriebe zu manch einer Leistung ansport, ist sich aber genauso sicher, dass eben diese Konkurrenz einen ungemein größeren Schaden an der Gesellschaft und an den Beziehungen zwischen den Menschen anrichtet. Der so genannte „freie Markt“ sei nur für diejenigen frei, die sich schadlos aus jedem Tauschgeschäft zurückziehen könnten. Das treffe nur auf die stärksten der Marktteilnehmer zu. Alle anderen blieben in den Schleppnetzen der Abhängigkeit. Felber beschreibt sehr anschaulich, wohin uns der Kapitalismus bisher geführt hat. Seine Analyse filtert die zehn Krisen des Kapitalismus, die sich mit kurzen Schlagworten umreißen lassen: Konzentration und Missbrauch von Macht; Ausschaltung des Wettbewerbs und Kartellbildung; Standortkonkurrenz zu lokalen Kleinbetrieben; ineffiziente Preisbildung infolge manipulierter Marktmacht; soziale Polarisierung und Angst in einer sich öffnenden Schere zwischen arm und reich; Nichtbefriedigung von Grundbedürfnissen und Hunger; Umweltzerstörung; Sinnverlust, Werteverfall und Ausschaltung der Demokratie. In einem System, das die Anhäufung materieller Werte zum nahezu einzigen Ziel habe, gerieten andere, weitaus wichtigere Werte (Beziehungs- und Umweltqualität, Zeitwohlstand, Kreativität, Autonomie u.a.) unter die Räder. Und es sei offensichtlich, dass globale Unternehmen, Banken und Investmentfonds über Lobbying, Medienbesitz, Public Private Partnerships und Parteienfinanzierung Parlamente und Regierungen erfolgreich dazu bringen, ihren Partikularinteressen und nicht dem Gemeinwohl zu dienen. Die Demokratie werde so zum letzten und prominentesten Opfer der „freien Marktwirtschaft“. Felber bringt Alternativen ins Spiel. Für ihn ist allein das Gemeinwohl Ziel allen Denkens und Handels. An ihm misst sich, was der Gesellschaft und dem Einzelnen nützt. Felber schafft neue Definitionen für unternehmerischen Erfolg, regt an, das Gemeinwohl als solches zu definieren, zu messen und eine Gemeinwohlbilanz aufzustellen. Sei dies geschehen, müsse jedes Bestreben, das Gemeinwohl zu mehren, belohnt werden. Das gelte gleichermaßen für Unternehmen, Organisationen, Einzelpersonen etc. Was den konkreten Wandel angeht, so formuliert der Autor durchaus strikt. U. a. beschränkt er die Gewinnverwendung von Unternehmen, sieht Aktiengesellschaften und folglich die Gewinnausschüttung an Aktionäre total im Aus, schreibt klar umrissene Mindestlöhne (etwa 1.250 €/Monat- S. 80) und Sozialhilfeleistungen ins Register, schlägt Veränderungen im Arbeitsleben – so z.B. vier Freijahre im Berufsleben – vor, „gründet“ die so genannte “ Demokratische Bank“ – deren fast ausschließliche Aufgabe es ist, eine dem Gemeinwohl und der Nachhaltigkeit verpflichtete Realwirtschaft mit Geld auszustatten und hofft, dass das Ganze im Wechselspiel von Subsidiarität, Demokratie, Kontrolle und Transparenz gar wird. Und mehr noch. Felber fordert darüber hinaus, bestehende Regeln für Vermögen, Eigentum und Unternehmensgrößen zu ändern. Auch das bestehende Erbrecht soll radikal verändert und zu Gunsten einer „demokratischen Mitgift“ für alle neu gestaltet werden. Große Bedeutung weist Felber der künftigen Erziehung und Bildung zu, wobei der Erwerb von sozialer und kommunikativer Kompetenz, Gefühlskunde, Wertekunde sowie Naturerfahrenskunde im Vordergrund stehen. Scharf kritisiert der Autor das Gerangel um die EU-Verfassung. Hier habe man den Souverein (die Völkern) zu Gunsten von Wirtschaft und Finanzwelt schlicht ausgeklinkt. So etwas sei mit seinen Vorstellung zu direkter Demokratie (dabei Teilhabe aller Gruppierungen der Bevölkerung) und Gemeinwohl-Ökonomie nicht vereinbar.

Auch dazu, wie die von Felber konstruierte Welt realisiert werden soll, gibt es Hinweise. Der Autor spricht von breiter Diskussion über das Konzept, über den notwendigen persönlichen Einsatz derer, die verändern wollen, beschwört die Ansetzung/Einberufung des Gemeinwohlkonvent, der Druck gegenüber Parlament und Regierung aufmachen müsse. Schließlich sei auch der Weg über die direkte Demokratie, also die Einberufung des Gemeinwohlkonvents auf Initiative und Druck allein der Bürgerbewegung – also ohne Dazutun von Regierung und Parlament – möglich, ja vielleicht sogar der bessere. Ziel sei in beiden Fällen eine Gesetzesänderung. Sie soll alle Unternehmen, die dem Gemeinwohl und der Nachhaltigkeit verpflichtet sind (z. B. steuerlich) besser stellen, sprich: deren Tätigkeit ausdrücklich gut heißen und fördern. Damit soll u. a. erreicht werden, dass diese Firmen Produkte und Dienstleistungen zu Preisen anbieten können, wie sie sonst nur bei traditionell wirtschaftenden Unternehmen üblich sind.

Die meisten von Felbers Ideen geraten angesichts des laufenden Finanz- und Wirtschaftswahnsinns in eine Art heilsbringerische Aura. Ja, möchte man rufen: Lasst uns unser Handeln am Gemeinwohl messen, lasst uns kooperieren statt konkurrieren, übt die direkte Demokratie, gebt dem Souverän (dem Volk), was des Souveräns ist und lebt die wirklichen Werte! Doch es ist wie so oft in Zukunftsentwürfen: Obwohl der Zielzustand – zumindest in den Hauptachsen – gut definiert ist, ist der Weg dahin zu dünn ausgeleuchtet. Aber auch das Konstrukt an sich wirft Fragen auf. So möchte man doch wissen, wie die Zahlen zu Einkommen und Vermögen entstanden sind, ob Felber sein neues Wirtschaften tatsächlich ausreichend stimuliert hat, wo und wie die „demokratische Mitgift“ überhaupt verwaltet,und den Bürgern (allen oder doch nur den „vertrauenswürdigen“?) in die „Treuhand“ gedrückt werden soll. Der Autor geht in seinem „Maßnahmeplan“ relativ weit, lässt aber wichtige Fragen – davon manche, die der Bürger zuerst aufgreift – offen. Vor allem aber versucht er, den zweifellos zu erwartenden massiven Widerstand seiner Gegner kleinzureden. In Düsseldorf hieß es am 9. Mai 2011 sinngemäß: Wir fragen nicht, wo der mächtigste Gegner steckt, wir arbeiten dort, wo es den geringsten Widerstand und das höchste Maß an Unterstützung gibt. Dieser Slogan ist sicher richtig, solange man auf niedrigem Level agiert. Doch sobald größere Unternehmen Felberscher „Machart“ zu Konkurrenten werden, dürfte sich die Lage schlagartig ändern. Dann wird – man verzeihe mir die schändliche Sequenz – zurückgeschossen. Wie er die derzeitigen „Weltwagenlenker“ von ihren Zügeln, sprich: von Macht und Vermögen zu trennen gedenkt, sagt Felber nicht – zumindest nicht explizit. Scheut er das Spiel mit dem Feuer? Setzt er stattdessen auf physische Vergänglichkeit und die strikte Durchsetzung seiner Erbrechtsreform? Ja – genau diesen Eindruck vermittelte Felber am 9. Mai. Was sei schon dabei, wenn man Tote besteuere, fragte er lächelnd. Und machte dabei deutlich, dass nix vererbt werde (in seinem Buch schlägt Felber ein maximales Erbe an Finanz-und Immobilienvermögen von 500.000 € vor). Glaubt der Autor wirklich, dass ein solcher Mechanismus bei alten Machtverhältnissen einfach so – von einer zur anderen Generation – durchsetzbar ist? Bisher vermochten nur Revolutionen das Oberste nach unten und das Untere nach oben zu kehren. Warum sollte das künftig anders sein? Felber meidet auch manche Begrifflichkeit. Die Weltreligionen, der Rheinische Kapitalismus, die öko-soziale Marktwirtschaft, der Kommunismus, ja selbst der demokratische Sozialismus kommen nicht vor bei ihm – folglich auch keinerlei Abgrenzungsversuche in diese wie jene Richtung.

Bleibt die Frage, wo und wie diese Kraft entsteht, die den Paradigmenwechsel quasi zwingend, wenn nicht zum Selbstläufer macht. In dem derzeit dominierenden Mix aus Konsum, Lifestyle, Desinteresse und Phlegma – meine ich – findet sie kaum Wurzeln. Felber sieht das offenbar anders. Ja er wartet sogar mit überzeugenden Beispielen auf. Das sind Privatpersonen, Attac-Aktivisten und kleine Unternehmen, die Felbers Ideale z. T. um den Preis ihrer Existenz aufs Schild heben. Hut ab! sage ich da. Doch wie lange hält das im gnadenlosen Wettbewerb mit den alten Mächten? Dazu schweigt der Autor, glaubt aber dennoch, dass die Idee sich durchsetzen könnte. Sie lebe – sagt er – durch ihre Ausstrahlung, und sie zehre von drei Katalysatoren: von der Tatsache, dass es eine Vision gebe, von guten Instrumenten und Konzepten sowie einer wachsenden Community. Felber setzt auf die Kraft und Unfehlbarkeit der Demokratie, die sich (Gottseidank!) nicht abschaffen, wohl aber in der Substanz und nach demokratischen Regeln verändern könne. Aber macht es sich Felber nicht zu leicht, wenn er diese durchaus begrüßenswerte, offenbar aber nur sehr langsam wachsende Bewegung zur ersten Etappe des großen Umbruchs erklärt? Ist es mit der Mund-zu-Mund-Propaganda, mit Vorträgen und kleinen Netzwerken – engagiert und vernunftgesteuert – tatsächlich getan, und wenn ja: auf welcher Zeitachse? Wird es nicht zusätzlicher Notlagen, Spannungen, Zuspitzungen und Kontroversen bedürfen, um diesen Wende-Prozess wirklich loszutreten – vor allem, wenn er die ganze Welt betrifft, ja – wie Felber selbst sagt – betreffen muss?

Ein wirklich wichtiges Buch für all diejenigen, die sich für eine neue, zukunftsfähige Welt interessieren !

Ulrich Scharfenorth

 

Im Detail formuliert Christian Felber:

S. 12: Adam Schmith hoffte, dass eine „unsichtbare Hand“ die Egoismen der Einzelakteure zum größtmöglichen Wohl aller lenken würde …. Bis heute bildet diese Annahme den Legitimationskern der kapitalistischen Marktwirtschaft. Aus meiner Sicht ist diese Annahme jedoch ein Mythos und grundlegend falsch; Konkurrenz spornt zweifellos zu so mancher Leistung an, aber sie richtet einen ungemein größeren Schaden an dr Gesellschaft und an den Beziehungen zwischen den Menschen an. Wenn Menschen als oberstes Ziel ihren eigenen Vorteil anstreben und gegeneinander agieren, lernen sie, andere zu übervorteilen und dies als richtig und normal zu betrachten. Wenn wir jedoch andere übervorteilen, dann behandeln wir sie nicht als gleichwertige Menschen: Wir verletzen ihre Würde.

S. 17: Keiner der nobelpreisgekrönten Ökonomen hat jemals mit einer Studie bewiesen, dass „Wettbewerb“ die beste Methode ist, die wir kennen. Das Fundament der ökonomischen Wissenschaft ist eine pure Behauptung, die von der großen Mehrheit der Ökonomen geglaubt wird. Und auf diesem Glauben beruhen Kapitalismus und Marktwirtschaft, die seit 250 Jahren das weltweit dominante Wirtschaftsmodel sind.

S. 18: Das Ziel unseres Tuns sollte nicht sein, dass wir besser sind als jemand anderer, sondern dass wir unsere Sache gut machen, weil wir sie gerne machen und für sinnvoll halten. Daraus sollten wir unseren Selbstwert beziehen …. Sich besser zu fühlen, weil andere schlechter sind, ist krank.

S. 24: Die hier vorgestellte Alternative beruht auf der Korrektur der fundamentalen und katastrophalen kulturellen Fehlentwicklung, dass wir in der Wirtschaft die gegenteiligen Werte fördern, die unsere Beziehungen gelingen lassen: In Zukunft sollen auch in den Wirtschaftsbeziehungen die humanen Grundwerte, die das menschliche und gemeinschaftliche Leben gelingen lassen, gefördert und belohnt werden.

S. 28/35: Da das neue Ziel aller Unternehmen das Gemeinwohl ist, muss dieses konsequenterweise auch in der unternehmerischen Hauptbilanz gemessen werden: in der Gemeinwohlbilanz. Die bisherige Hauptbilanz, die Finanzbilanz, wird zur Nebenbilanz …. Die Gemeinwohlbilanz könnte … auch die gesetzlichen Mindeststandards beinhalten – zum Beispiel zu Umweltstandards, Regelarbeitszeit, Mitbestimmungsrechten, Mindest- und Höchsteinkommen. Vor allem aber müsste sie aus Kriterien bestehen, bei deren Erreichen ein Unternehmen Gemeinwohlpunkte erhält, die ihm das Leben erleichtern …. Je mehr Gemeinwohlpunkte ein Unternehmen hat, desto mehr rechtliche Vorteile kann es in Anspruch nehmen (niedriger Mehrwertsteuersatz, niedriger Zolltarif, günstigerer Kredit bei der Demokratischen Bank etc.) …. Die Finanzbilanz bleibt weiterhin bestehen, weil es in der Gemeinwohlökonomie nach wie vor Geld und Produktpreise gibt; sie wird aber zur Nebenbilanz. Der Gewinn wird vom Zweck zum Mittel …. Da Gewinne sowohl nützlich als auch schädlich sein können, werde sie differenziert auf bestimmte Verwendungen begrenzt, um das „Überschießen“ in den Kapitalismus – die Akkumulation um der Akkumulation willen – in eine sinnvollere Richtung umzulenken. Verwendungen von Überschüssen, die zu Fressübernahmen, Machtdemonstrationen, Ungleichheit, Umweltzerstörung und Krisen führen, müssen sogar unterbunden werden, während Überschüsse, die zur Schaffung von sozialem und ökologischen Mehrwert, für sinnvolle Investitionen und Kooperationen – kurz: zur Steuerung des Gemeinwohls – verwendet werden, weiterhin wünschenswert sind.

S. 41: Die von der „Gewinnbeschränkung“ hauptsächlich Betroffenen wären Aktiengesellschaften. Diese Unternehmensform soll es … in Zukunft nicht mehr geben …. Heute haften immer öfter die SteuerzahlerInnen für die Aktionäre, zum Beispiel wenn marode Banken oder Autofirmen gerettet werden. Anstatt von den EigentümerInnen einen Nachschuss einzufordern, werden diese von den SteuerzahlerInnen für ihre schlechte Performance und die mangelnde Verantwortung belohnt. Das fördert die Tendenz von Aktiengesellschaften zu besonderer Rücksichtslosigkeit, Verantwortungslosigkeit und Untergrabung der Demokratie.

S. 42: Unternehmen sollen ihr Einkommen ausschließlich aus dem Zweck gewinnen, dem sie gewidmet sind, und nicht aus Finanzgeschäften.

S. 50: „Globale Finanzmärkte“ sind bei näherer Betrachtung ein Widerspruch in sich: Im liberalisierten Markt tendieren Banken dazu, eine global wettbewerbsfähige Größe anzustreben. Dadurch werden sie aber zwingend „systemrelevant“, wodurch eine fundamentale Marktsregel, der Konkurs, nicht mehr auf sie angewendet werden kann. Sie sind zu ewigem Leben verdammt (too big to fail – zu groß, um stürzen zu dürfen). Damit ist der faire Wettbewerb vorbei.

S. 48: Im System der Gemeinwohl-Ökonomie dürfen sich alle Menschen pro Dekade ihres Berufslebens ein Jahr Auszeit nehmen und anderweitig verwirklichen. Bei vierzig Arbeitsjahren wären das vier Freijahre pro Person. Aus heutiger Sicht würde das den Arbeitsmarkt um rund zehn Prozent entlasten; die heutige EU-Arbeitslosigkeit wäre allein dadurch beseitigt.

S. 52: (Wichtiger Bestandteil der neuen Ökonomie ist die Demokratische Bank). Sie ist dem Gemeinwohl verpflichtet und nicht gewinnorientiert …. Insbesondere sollen regionale Wirtschaftskreisläufe und sozial wie ökologisch nachhaltige Investitionen gefördert werden. Sie erbringt u. a. folgende Kernleistungen u. a.: Kostenloses Girokonto für alle WohnsitzbürgerInnen, unbeschränkte Garantie der Spareinlagen, kostengünstige Kredite für Privathaushalte und Unternehmen bei ökonomischer Bonität und Schaffung von ökologischem und sozialem Mehrwert durch die Investition …. Die Demokratische Bank ist subsidiär aufgebaut. Die große Mehrheit aller Kredite wird auf kommunaler Ebene vergeben. Die Demokratischen Banken entscheiden autonom. Auf der kommunalen Ebene wird der Vorstand ebenso direktdemokratisch gewählt wie der Aufsichtsrat („Demokratischer Bankenrat“), von dem er kontrolliert wird. Der Demokratische Bankenrat besteht aus VertreterInnen der Beschäftigten, KonsumentInnen, SchuldnerInnen, regionalen Kleinbetrieben (KMU) sowie einer Gender-Beauftragten und einer ZukunftsanwältIn …. Alle Gremien der Demokratischen Bank tagen öffentlich.

S.62: Das Prinzip der Gewaltenteilung besagt im Kern: Die Macht im Staat muss aufgeteilt werden (zwischen Legislative, Exekutive und Judikative), damit keine Instanz im Verhältnis zur anderen zu mächtig werden kann. Heute ist es dringend nötig, dieses Prinzip auf die Wirtschaft zu übertragen, weil dort die Macht so stark konzentriert ist, dass die übermäßige (Eigentums-)Freiheit der einen die Freiheit aller massiv gefährdet. Zur Trennung der Gewalten schlage ich so genannte „negative Rückkopplungen“ vor …. Kapitalismus ist ein positiv rückgekoppeltes System, weil es mit fortschreitendem Reicherwerden und Größerwerden für Individuen und Unternehmen immer leichter wird, noch reicher und größer zu werden. Die erste Million ist die schwierigste. Die zweite Million geht schon viel einfacher. Bei der 101. Million weiß man oft schon gar nicht mehr, was man für diese noch geleistet hat, und wer tausend Millionen beisammen hat, muss bei durchschnittlicher Verzinsung täglich 220.000 Euro ausgeben, um nicht reicher zu werden. Negative Rückkopplung hieße, dass die erste Million die am leichtesten zu erwerbende ist und dadurch für die große Mehrheit erreichbar wird, während das zusätzliche Reicher – oder Größerwerden immer schwieriger wird, bis es schließlich gar nicht mehr weiter geht. Folgende „Rückkopplungen“ könnten das bewirken: die relative Begrenzung der Einkommensungleichheit, die Begrenzung des Rechts auf Aneignung von Privatvermögen, die Begrenzung der Größe von Unternehmen in Privatbesitz und die Begrenzung des Erbrechts.

S. 64: Da es in der Gemeinwohl-Ökonomie keine Kapitaleinkommen mehr gibt, stellt sich das Problem der Addition von Arbeits- und Kapitaleinkommen nicht. Mieteinkommen und Schenkungen werden dem Personeneinkommen hinzugerechnet und dieses in Summe mit dem Faktor 20 des Mindestlohnes begrenzt …. Das Verstecken von Einkommen und Vermögen vor dem Finanzamt ist nicht mehr möglich, da es im Wesentlichen nur noch die Demokratische Bank gibt und diese – wie alle anderen Banken auch – sämtliche Einkommen automatisch dem Finanzmarkt meldet …. Deshalb schlage ich vor, dass neben den Einkommensungleichheiten auch das Eigentumsrecht (Privatvermögen) mit zehn Millionen Euro begrenzt werden sollte.

S. 78: Im neoliberalen Kapitalismus wird Eigentumsfreiheit als eine der höchsten Freiheiten angesehen und deshalb absolut gestellt. Doch Gleichheit im Sinne des gleichen Rechts aller Menschen auf Leben, Chancen und Freiheiten ist ein höherer Wert als Freiheit, weil die zu große Freiheit der einen die Freiheit anderer gefährdet …. Gleichheit ist deshalb ein absolutes Prinzip, Freiheit ein relatives …. Für Eigentum bedeutet das, dass alle Menschen das gleiche Recht auf ein begrenztes (für ein gutes Leben nötiges) Eigentum erhalten sollten, aber niemand ein unbegrenztes Eigentumsrecht.

S. 66: Deshalb sollten große Unternehmen in dem Maße, in dem sie größer werden, demokratisiert und vergesellschaftet werden. Das könnte so aussehen: Ab 250 Beschäftigte erhalten die Belegschaft und die Gesellschaft 25% der Stimmrechte; ab 500 Beschäftigten erhalten sie 50% der Stimmrechte; ab 1.000 Beschäftigten zwei Drittel der Stimmrechte; ab 5.000 Beschäftigten gehen die Unternehmen zur Gänze in das Eigentum der Beschäftigten und der Allgemeinheit über.

S. 68: Wäre es nicht gerechter und leistungsfördernder, wenn alle unter gleichen Bedingungen starten könnten? Bis 2001 kamen in Deutschland nur fünfzehn Prozent der Erwachsenen in den Genuss einer Schenkung oder Hinterlassung. 85% sind also faktisch enterbt. In der Gemeinwohl-Ökonomie würde es gerechter zugehen: Das Erbrecht bei Finanz- und Immobilienvermögen wird zum Beispiel mit 500.000 Euro pro Person begrenzt (Startwert). Darüber hinausgehende Erbvermögen gehen in das Eigentum der Allgemeinheit über und werden zu gleichen Teilen an die Nachkommen der nächsten Generation verteilt („demokratische Mitgift“). Das vererbte Vermögen summiert sich in Deutschland jährlich auf 130-200 Milliarden Euro – ungefähr ein Fünfzigstel des Gesamtvermögens von 8,1 Billionen Euro. Würde dieses zu gleichen Teilen auf alle neu in das Erwerbsleben Eintretenden verteilt, wären das bis zu 200.000 Euro pro Person – kein schlechtes Startkapital!

S. 70: (Vererbung von Unternehmen). In der Gemeinwohl-Ökonomie ist das Ziel, dass Unternehmen von möglichst vielen, wenn nicht allen Personen besessen werden. Deshalb werden demokratische Unternehmen auch gefördert, und es ist anzunehmen, dass es einen wachsenden Anteil von GenossInnenschaften oder ähnlichen Unternehmensrechtsformen geben wird. In diesen Fällen entfällt die Erbschaftsproblematik: Genossenschaftsanteile sind in der Regel sehr klein. Mit Aktiengesellschaften gäbe es ebenfalls kein Problem …. Diese Rechtsform soll es in der Gemeinwohl-Ökonomie ohnehin nicht mehr geben …. Wirklich knifflig sind damit nur die Familienunternehmen. Als Kompromiss zwischen Chancengleichheit und Familientradition könnte das Erbrecht hier so gestaltet werden, dass Familienmitglieder Unternehmensanteile im Wert von maximal zehn Millionen Euro erben dürfen (Startwert). Die darüber hinausgehenden Anteile gehen in das kollektive Eigentum der Beschäftigten über, die das Unternehmen mittragen und zum Teil mit aufgebaut haben … oder an ausgewählte Nichtfamilienmitglieder, die Verantwortung im Unternehmen zu übernehmen bereit sind. Hier ist der Anteil wiederum mit einer halben Million Euro begrenzt und würde als „demokratische Mitgift“ gewertet.

S.82: Immer mehr Menschen hätten die Möglichkeit, Unternehmen zu gründen, weil sie mit einem ansehnlichen Startkapital ins Berufsleben starten: Sie können sich sofort an Unternehmen beteiligen oder selbst neue Unternehmen gründen. …. Die gerechtere Verteilung von Kapital bewirkt, dass sich die Risikobereitschaft gleichmäßiger über die Bevölkerung verteilt. Das Gemeinwesen ist dann weniger auf schillernde Persönlichkeiten angewiesen, die zu herausragenden LeistungsträgerInnen stilisiert werden, obwohl sie ihre Vermögen zum Teil bloß geerbt und nicht selbst erarbeitet oder durch positive Rückkopplungseffekte auf Kosten anderer erworben haben.

S.: 76: Neben einer Mehrheit von privaten Kleinunternehmern und einer kleinen Zahl von Großunternehmen im gemischten Eigentum soll es in der Gemeinwohl-Ökonomie – so wie in der sozialen Marktwirtschaft – eine dritte Kategorie von Eigentum geben: öffentliches Eigentum …. Mein Vorschlag ist nicht, dass wir zurückkehren zu staatlichen Versorgungsunternehmen, wie wir sie kannten, sondern dass essenzielle Wirtschaftszweige direkt von der Bevölkerung kontrolliert und gesteuert werden …. Davon inspiriert könnten „moderne“ oder „demokratische Almenden“ die Bahn oder die Post sein, Universitäten, Stadtwerke, Kindergärten oder eben die Banken …. Im kalifornischen Energieversorgungsunternehmen Smud, das in der Hauptstadt Sacramento und rundherum 1,5 Millionen Menschen mit Strom versorgt, wird das Leitungsgremium direktdemokratisch gewählt. Dieses muss sich deshalb nach den Prioritäten der Bevölkerung richten, was ihm exzellent gelingt. Smud ist bei den Präferenzen der Bevölkerung – Umweltschutz und hochwertiger Service – konstant an der Spitze der USA und weit über dem gesetzlichen Mindeststandard in Kalifornien. In den wichtigsten Fragen dürfen die EigentümerInnen selbst entscheiden. Diese unternehmensinterne direkte Demokratie wurde bisher einmal angewandt: 1989 stellte Smud den BürgerInnen-EigentümerInnen die Frage, ob das einzige betriebseigene Atomkraftwerk weiterlaufen oder ein neuer Weg in Richtung erneuerbare Energien eingeschlagen werden solle. Die Mehrheit der Versorgten entschied sich für die Einfriedung des Atomkraftwerkes und die massive Förderung grüner Energiequellen. Der Erfolg dieser „souveränen“ Entscheidung ist heute gut sichtbar.

S. 79: Der häufigste und einfachste Beweggrund, einem Unternehmen beizutreten oder es zu gründen, liegt darin, dass Menschen ein Einkommen benötigen. Der Erwerbszwang ist in der Gemeinwohl-Ökonomie nicht abgeschafft, zumal es neben der „demokratischen Mitgift“ und den vier Freijahren nur eine bescheidene Grundsicherung geben wird, die zwar für das Überleben ausreicht, aber nicht zu einem „guten Leben“. Wer ein gutes Leben haben möchte, muss dafür etwas tun. Der Rahmen wird aber ein ganz anderer und für das Finden einer Erwerbsarbeit viel günstiger sein als heute: Denn die Menschen werden in der Gemeinwohl-Ökonomie a) weniger gestresst und überfordert sein, b) mehr Sinn finden, c) mehr mitgestalten und mitentscheiden können, weil die Rollen von „UnternehmerInnen“ und „ArbeiterInnen“ zunehmend verschwimmen; und d) werden die Unternehmen nicht zueinander in Kontrakurrenz stehen und höhere Gewinne erzielen müssen als die anderen, weshalb sie nicht um die Wette Arbeitsplätze abbauen werden.

S. 84: (Wir wissen), warum die Konkurrenz gar so fest auf dem Thron unseres Wertesystems sitzt: Viele, wahrscheinlich die Mehrheit von uns, sind nicht oder schwach intrinsisch (aus ihrem eigenen Inneren heraus) motiviert, weil sie sich nicht kennen und in sich nichts Sinnvolles erfahren, das sie zu Höchstleistungen ohne jede Konkurrenz treiben könnte. Sie sind innerlich leer und können Sinn nur von außen beziehen. Und wenn die Außenwelt unentwegt schreit: Geld, Karriere, Erfolg und Macht sind die „Werte“, auf die es ankommt, dann „verinnerlichen“ viele von uns diese Werte, auch wenn sie noch keinen Menschen glücklich gemacht haben …. Es reicht schon aus, dass eine Kultur „falsche“ Werte wie Konkurrenz, Profitstreben oder Karrieredenken von Generation zu Generation tradiert und heute noch die Mehrheit glaubt, das Menschen von Natur aus so seien, bloß weil sich die Mehrheit der GenerationskollegInnen, die dazu erzogen wurden, tatsächlich so verhält …. Kinder, die nicht gelernt haben, ihre eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Gedanken wahrzunehmen, sondern stattdessen für Gehorsam und Leistung mit „Liebe“ belohnt zu werden, werden ihr Leben lang weiterversuchen, durch Leistung die Liebe anderer zu erheischen. Sie werden nicht oder nur halbherzig hinterfragen, was sie da eigentlich leisten, und anstelle von elterlicher Liebe – bald Geld für ihre Leistungen annehmen, bis sie fast alles nur noch für materielle Entlohnung machen.

S. 87: Eine der wichtigsten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für das Gedeihen der Gemeinwohl-Demokratie ist die Erziehung zu neuen Werten, die Sensibilisierung für das eigene Menschsein, die Einübung von sozialer und kommunikativer Kompetenz und die Vermittlung von Achtung vor der Natur. Deshalb schlage ich fünf Pflichtgegenstände für alle Schulstufen vor, die mir allesamt wichtiger erscheinen als die meisten der gegenwärtigen Unterrichtsfächer …: Gefühlskunde, Wertekunde, Kommunikationskunde, Demokratiekunde und Naturerfahrenskunde.

S. 91: Obwohl wir formal in Demokratien leben, empfinden immer weniger Menschen, dass sie das gesellschaftliche Leben tatsächlich mitbestimmen können. Immer häufiger treffen Regierungen Entscheidungen, welche den Bedürfnissen und Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zuwiderlaufen: Die Deregulierung der Finanzmärkte, die Nichtzerschlagung systemrelevanter Banken, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen wie Trinkwasser- und Energieversorger, Bahn, Post oder Banken; das Lostreten globaler Standortkonkurrenz durch „Freihandelsabkommen“, die Liberalisierung des Kapitalverkehrs bis in die letzte Steueroase; das Zulassen der Einkommensungleichheit bis zum 300.000fachen; die Durchsetzung von Gentechnik in der Landwirtschaft; die Legalisierung von Patenten auf Lebewesen; der Euratom-Vertrag; die Aufrüstungsverpflichtung im EU-Lissabonvertrag; die brutale Repression der DemonstrantInnen beim Klimagipfel in Kopenhagen oder der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen den Irak: Bei direktdemokratischen Verfahren wäre in den meisten Ländern vermutlich keine dieser Entscheidungen mehrheitsfähig.

S. 92: Das Problem der sozialen Intimität zwischen Politik und Wirtschaft wird umso brennender, je reicher und mächtiger die ökonomischen Eliten werden. Das zeigt, das ökonomische Eliten an sich das Problem sind – und erhärtet die Forderung nach Begrenzung der Ungleichheiten …. Diese Eliten haben auch einen überproportionalen Einfluss auf die maßgeblichen Medien: durch persönliche Kontakte mit leitenden JournalisInnen, die diesen Kontakt suchen und pflegen, um sich wertvolle Informationsquellen zu sichern; durch das Teilen von Werten mit den medialen Eliten (die Mächtigen sind, wenn es um den Machterhalt geht, hochgradig kooperativ); durch Werbeschaltungen, von denen die Medien ökonomisch abhänging sind; und in Form direkter Kontrolle über Eigentum: Viele Zeitungen gehören heute Banken, Finanzinvestoren und sogar Rüstungskonzernen: Das darf nicht sein. Auch der wissenschaftliche Mainstream folgt mitunter der Meinung der Mächtigen …, weil viele Intellektuelle aus gutem Hause kommen und Partei für die eigene „Klasse“ ergreifen und die Universitäten im Zuge der Liberalisierung immer mehr auf Drittmittel aus der Wirtschaft angewiesen sind …. Think-Tanks arbeiten für diejenigen, die sie bezahlen. Das sind in der Regel einflussreiche ökonomische Kreise …. Parteien werden von Unternehmen … finanziert – mit entsprechenden Ergebnissen …. Die Demokratie ist infolge dieser Bedingungen und Entwicklungen in einer schweren Krise. Wenn wir die ökonomischen Ungleichheiten unangetastet lassen und „Demokratie“ auf ein Wahlkreuz alle vier oder fünf Jahre reduzieren, dann schafft sie sich von selbst ab. Um lebendige Demokratie zu erreichen, muss es … zu einem historischen Ausbau demokratischer Beteiligungs- und Kontrollrechte kommen, und müssen möglichst viele Menschen auf möglichst vielen Ebenen mitdiskutieren, mitentscheiden und mitgestalten können – auch in der Zeit zwischen den Parlamantswahlen und in demokratisierten Bereichen des sozioökonomischen Lebens.

S.97/101: (Direkte Demokratie bedeutet), dass die souveräne Bevölkerung ein Gesetz, das ihr Missfallen erregt, mit Stimmenmehrheit ablehnen kann. Und zum anderen, dass sie selbst ein Gesetz, das nicht im „Angebot“ der Regierung enthalten ist, auf Schiene bringen und beschließen kann. Für beide Rechte kann dasselbe Verfahren angewendet werden: die von einer wachsenden Zahl von Organisationen geforderte dreistufige direkte Demokratie. Erste Stufe: Findet ein Gesetzesvorschlag aus der Mitte der Bevölkerung eine ausreichende Zahl von UnterstützerInnen, zum Beispiel ein halbes Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung, wird ein bundesweites Volksbegehren eingeleitet. Zweite Stufe: Überwindet dieses Volksbegehren – die Sammlung von Unterschriften im ganzen Land in den Wahllokalen – eine weitere und größere Hürde, wie zum Beispiel drei Prozent, kommt es zur verpflichtenden Volksabstimmung. Die dritte Stufe gibt es derzeit nur in der Schweiz. Dort sind die Bürgerinnen und Bürger der eigentliche Souverän. In Deutschland, Österreich, Italien und den meisten anderen Ländern hat das Parlament das letzte Wort. Und es kann auch gegen den Willen der Bevölkerung Atomkraftwerke bauen, dem Kapital den Fluchtweg in die Steueroasen öffnen, Patente auf Lebewesen legalisieren oder an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg teilnehmen …. In Deutschland wurde das Instrument des Volksentscheids in den letzten 15 Jahren in den meisten Bundesländern sowie auf kommunaler Ebene eingeführt, in Bayern gibt es seit 1995 die Bürgerentscheide …. Alle zeitgemäßen Initiativen für direkte Demokratie fordern …, dass weder die Demokratie selbst noch schon erstrittene Grund-, Menschen- und Minderheitenrechte durch direkte Demokratie infrage gestellt werden dürfen …. In Zeiten, in denen die Regierungen immer mehr von den ökonomischen Eliten vereinnahmt werden („Postdemokratie“) ist die direkte Demokratie ein Gebot der Stunde. Dass der Souverän dies will, sollte eigentlich Grund genug sein: 75% der CSU/CDU-Getreuen sind für direkte Demokratie und 81 % der SPD-Fans.

S.102/105: Der nächste Schritt ist die Trennung der Gewalt, welche die Verfassung schreibt, von derjenigen, die durch die Verfassung eingesetzt wird. In der Politikwissenschaft versucht man die „verfassungsgebende Gewalt“ (Souverän) von der „verfassten Gewalt“ (Parlament, Regierung) zu trennen. Der Gedanke dahinter leuchtet ein: Wenn die demokratischen Institutionen die Spielregeln des Regierens selbst machen dürfen, dann werden sie dem Volk möglichst wenig Rechte einräumen, um selbst die ganze Macht zu behalten. Schreibt hingegen das souveräne Volk die Verfassung, dann wird es sich sehr wahrscheinlich das letzte Wort sowie umfassende Mitbestimmungs- und Kontrollrechte reservieren …. Dieser Punkt ist besonders vor dem Hintergrund der Entwicklung der Europäischen Union relevant. Bisher wurden die Grundlagenverträge stets von den Regierungen geschrieben. Die Bevölkerung war vom Entwicklungsprozess der neuen Verträge ausgeschlossen und durfte auch über das Endergebnis nur selten abstimmen. Diese Praxis wird in dem Maße problematischer, in dem die EU immer mehr Kompetenzen übertragen bekommt und staatsähnlichen Charakter annimmt. Spätestens aber bei der sogenannten „EU-Verfassung“ hätten die Regierungen die Souveräne ans Ruder lassen müssen …. Der Vorschlag von Attac lautet: Aus der Mitte der Bevölkerung soll eine demokratische Versammlung gewählt werden, die sich aus VertreterInnen aller Mitgliedstaaten und mindestens 50% Frauen zusammensetzt und den neuen Grundlagenvertrag, heiße er nun Verfassung oder nicht, schreibt. Üblicherweise wird eine solche Versammlung Konvent genannt …. Ein demokratisch entstandener Grundlagenvertrag würde nicht nur das schmerzlich vermisste Vertrauen der BürgerInnen in die EU herstellen, er würde das Projekt der Europäischen Integration auch auf einen anderen inhaltlichen Kurs bringen …. Die BürgerInnen würden vieles von dem, was in den jetzigen Verträgen steht – Binnenmarktstrategie, Wettbewerbsimperativ, Ausschreibungszwang, blinder Freihandel oder schrankenloser Kapitalverkehr -, nie und nimmer hineinschreiben. Dafür würden die Grundrechte an höchster Stelle stehen und einen gedeihlichen Rahmen nicht zuletzt für die Gemeinwohl-Ökonomie bilden.

S. 116: In der Gemeinwohl-Ökonomie würden fair gehandelte Produkte so lange gegenüber unfairen in Vorteil gestellt, bis nach einer mehrjährigen Übergangszeit nur noch faire Produkte in den Regalen stünden. Das ließe sich mit einem jährlichen Zollaufschlag von beispielsweise zehn Prozent auf unfaire Produkte erreichen.

S. 118: Bank ist nicht gleich Bank. Schon heute haben sich einige Banken dem Dienst am Gemeinwohl verschrieben. Die deutsche Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken (GLS), eine Genossenschaftsbank, wurde 1974 von Anthroposophen gegründet. Sie ist die erste Universalbank in Deutschland, die nach sozialökologischen Grundsätzen arbeitet …. Als Ausschlusskriterien gelten für das gesamte Bankgeschäft u. a. Alkohol, Atomenergie, Embryonenforschung, grüne Gentechnik, Rüstung, Tabak, Kinderarbeit und Tierversuche …. Kredite werden grundsätzlich nicht weiterverkauft, ebenso wenig gehören spekulative Geschäfte zu ihrem Geschäftsmodell.

S. 128/131: Das grundlegende Unbehagen mit der Wirtschaft, die strukturell auf Egoismus, Kontrakurrenz, Besitzorientierung, Wachstumszwang und Naturzerstörung beruht, kann nur durch einen völlig neuen Ansatz ersetzt werden. Und dieser muss langsam in die Gesellschaft und in das kollektive Bewusstsein einsickern – durch intensive öffentliche Diskussion und Wertebildung  …. Nichts ist mächtiger als die Idee, deren Zeit gekommen ist. Anstatt uns also von der behaupteten Unerreichbarkeit einer attraktiven Alternative entmutigen zu lassen, sollten wir selbst mithelfen, sie weiter auszuarbeiten, bekanntzumachen und schließlich durchzusetzen …. Es reicht aus, dass alle, die eine Änderung des Status quo wünschen, ihren kleinen Beitrag leisten – sofort würde eine mächtige soziale Bewegung entstehen. Deshalb ist es nur konsequent, dass alle, die die Gemeinwohl-Ökonomie befürworten, sie auch ins Gespräch bringen, bewerben und einfordern …. Sobald der Druck auf Parlament und Regierung groß genug geworden ist, könnten diese jederzeit die Wahl zum Gemeinwohlkonvent ansetzen. Dieser könnte sich aus 100 bis 200 Personen aus allen Gesellschaftsbereichen zusammensetzen, deren Auftrag es ist, jene Kriterien zu finden, mit denen der Beitrag von Unternehmen zum allgemeinen Wohl am besten gemessen werden kann …. Erreichen Gemeinwohlziele und –bilanz die Mehrheit, werden sie in der Verfassung verankert und können nur noch durch den Souverän selbst abgeändert werden …. Sobald die Ergebnisse per Volksabstimmung angenommen und damit Gesetz geworden sind, beginnt die Phase der Umsetzung. Hier ist es wichtig, niemanden zu überfallen und zu überfordern. Damit Unternehmen langfristig planen und ihre „Umwandlung“ vorbereiten können, könnte die Gemeinwohlbilanz zwei Jahre lang „trocken“ erstellt werden, das heißt noch ohne rechtliche Verbindlichkeit. Und auch nach dieser Einübungsphase geht es nicht ruckartig los. Die Mindeststandards könnten beispielsweise in Fünf- bis Zehn-Jahres-Schritten eingeführt und die Gemeinwohlpunkte anfangs in geringen Maße ausgegeben und später gesteigert werden …. Die Regelarbeitszeit sinkt nicht schlagartig von 38,5 auf 25 Wochenstunden, sondern in einem Übergangszeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren …. Ein alternativer, vielleicht der konsequentere Weg führt über die direkte Demokratie. Sobald diese auch auf Bundesebene in Deutschland, Österreich, Italien und vielleicht auch auf der EU-Ebene erstritten ist, kann eine breite BürgerInnenbewegung für die Wahl des Gemeinwohlkonvents eintreten und diesen im Erfolgsfall erzwingen – ohne auf die Initiative der Regierung angewiesen zu sein.

S. 137: Mir ist keine Geistesschule oder Weltreligion bekannt, die uns zur Konkurrenz oder zum Egoismus erziehen wollte. Umso erstaunlicher ist es, dass das westliche Wirtschaftssystem auf Werten aufbaut, die von keiner Religion oder Ethik empfohlen werden.

S. 141: Würden wir es heute den Unternehmen freistellen, wie sie sich verhalten, würden sich zwar einige für Gemeinwohlorientierung entscheiden, andere aber nicht, weil viele von uns asoziale Werte wie Egoismus und Konkurrenzverhalten verinnerlicht haben und diese leben würden. Und sie würden sich durchsetzen, weil in der gegenwärtigen Systemdynamik das Unternehmen mit dem höchsten Finanzgewinn den Wettbewerb gewinnt! Das lässt sich nur durch „weiche“ Werte-Bildung, Anreizmechanismen und „harte“ Gesetze zusammen umsteuern.

S. 145: Unter den gegenwärtigen Bedingungen des Freihandels und des freien Kapitalverkehrs müsste die Gemeinwohl-Ökonomie weltweit eingeführt werden, weil andernfalls die Dumpingkonkurrenz die Gemeinwohlbetriebe vermutlich vernichten würde.

S. 146: Das Ziel der unternehmerischen Tätigkeit und der unternehmerische Erfolg werden nicht mehr in Geld gemessen, sondern in Gemeinwohlpunkten …. Folglich wird es – hoffentlich – ein dauerhaftes Wachstum an Gemeinwohl geben, aber nicht notwendigerweise eines an Geld …. Die Hauptursache des (heutigen) Wirtschaftswachstums … liegt meines Erachtens darin, dass die zentralen Erfolgsindikatoren auf makroökonomischer und mikroökonomischer Ebene in Geld gemessen werden. Geld bildet jedoch nicht den Nutzwert von Gütern und Leistungen ab, sondern lediglich ihren Tauschwert …. Weder ein Zuwachs des Bruttoinlansproduktes (BIP) noch ein höherer Unternehmensgewinn sagen etwas über die Entwicklung der Nutzwerte aus.

 

Die widerliche Aura des Militarismus (1)

Wieder einmal sind es die Hardliner der „Rheinischen Post“, die den Afghanistan-Feldzug beweihräuchern. Dass selbst Experten diesen Krieg für verloren und nur 30% der Deutschen an ihm fest halten, interessiert sie nicht. Im Gegenteil: Die Reise des eigens nach Kabul entsandten Helmut Michaelis muss sich lohnen – ganz gleich, ob das, was der dort recherchiert, repräsentativ ist oder embedded aus den Gefälligkeitsquellen der Brandstifter stammt. Diesmal drückt uns Michaelis ein Interview mit David Petraeus aufs Auge, und genau der ist es auch, der uns uniformiert und ordensgeschmückt aus dem Blatt heraus angrinst http://nachrichten.rp-online.de/politik/petraeus-druck-auf-taliban-wirkt-1.314206.

Damit nicht genug. Die RP hat die einzelnen brustbildenden Abzeichen und Insignien detailliert erklärt – sicher, um die Glaubwürdigkeit des Interviewpartners zu befestigen. Der umgebende Text aber sagt nichts, nichts über die wirkliche Lage am Hindukusch. Solch Wertung mag angesichts fehlender eigener Recherchen anmaßend wirken. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn wenn – wie hier – ausschließlich von Fortschritten bei der Intervention, vom erfolgreichen Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte und realen Chancen für die Übergabe der Macht an Karsai & Co gesprochen wird, spiegelt das nicht nur Wunschdenken – es ist schlichtweg falsch. Und wenn Michaelis dümmlich anfragt, ob eine Pflanzenkrankheit bei der Bekämpfung des Drogenanbaus helfe, hat man die Leserei doppelt satt. Setzen sie Amis Mikroben ein, oder fault’s von selbst? fragt man sich. Petraeus klärt das nicht auf, meint nur, die ISAF habe kein Rauschgift-Mandat. Das andere aber, das zur Transition (der Machtübergabe an die afghanischen Galionsfiguren) nehme er verdammt ernst, und es reiche bis (mindestens) 2014.

Afghanistan wird auch in der „ZEIT“ zerkocht. Da gibt es in der letzten Dezemberausgabe eine Rezension zu „War“ – dem gerade übersetzten Buch von Sebastian Junger. Junger, sehe ich und denke: Jünger. Und tatsächlich: Der embedded US- reporter beschwört neue Stahlgewitter. Folgt man den Auslegungen des „ZEIT“-Journalisten (http://www.zeit.de/2011/01/L-B-Jungers) ,dann sträuben sich einem die Haare: „WAR (so heißt es im Text wörtlich) ist ein bedrückendes Buch über den Krieg oder über das Kämpfen im Krieg, und gleichzeitig ist das Buch – so sieht es für mich aus – Jungers ganz persönliches Heldenepos, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass er in Afghanistan zwei überwältigende Erfahrungen gemacht hat, die sich schon in den Titeln der drei Teile andeuten, aus denen das Buch besteht: Angst – Töten – Liebe. Die Soldaten, wie Junger sie beschreibt, überwinden ihre Angst, und das Kämpfen wird für sie zu etwas, ohne das sie fast nicht mehr leben können. Das sollte einen nicht überraschen, schließlich sind sie Profis, aber es überrascht mich trotzdem. An einer zentralen Stelle schreibt Junger, es sei sinnlos, so zu tun, als sei der Krieg nicht auch aufregend, wahnsinnig aufregend sogar: »Krieg muss als schlecht gelten, denn im Krieg geschehen zweifellos schlechte Dinge, aber ein Neunzehnjähriger am Abzug eines .50 Kaliber Maschinengewehrs während eines Feuergefechts, das alle heil überstehen, erlebt den Krieg als einen so extremen Nervenkitzel, wie ihn sich niemand vorstellen kann. In mancher Hinsicht verschaffen zwanzig Minuten Kampfgeschehen mehr Lebensintensität, als man sie während eines Daseins zusammenkratzen kann, das mit anderem beschäftigt ist.« So ein militaristischer Unflat macht mich sprachlos. Die Bundeswehrreform steht an, und da muss sich niemand über politischen und Medien-Geleitschutz wundern. Tacheles reden will man dennoch nicht. Wer schon spricht von sanktioniertem Mord, wer schon stellt fest, dass deutsche Rekruten künftig kein Wahlrecht haben. Einmal in der Truppe, müssen sie mitziehen. Überall hin und ohne Abstriche. Ganz gleich, ob es sich um humanitäre Aktionen oder aber um schnöde Rangeleien um ausgehende Rohstoffe handelt. Noch freilich gibt es ein Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen. Den Spielraum dafür dürfte man künftig einengen. Wer sich künfig für den Bund entscheide, müsse wissen … Dass zu Guttenberg bei dieser Sachlage auch weiterhin den Bürger in Uniform verkauft, ist hanebüchen.

Und dann – wiederum aus der „ZEIT“ – ganz frisch die Botschaft: Siegen lernen – Die Militäreinsätze in Afghanistan und im Irak werden nach dem Vorbild europäischer Kolonialkriege geführt („DIE ZEIT“, 5. Januar 2010). In einer Sprache zwischen betroffen und süffisant macht sich Stephan Malinowski über einen Strategietransfer her, der seinesgleichen sucht. Worum geht es. Es geht um den „Erfahrungsschatz“, den Raubritter aller Couleur (bei der Unterwerfung und Ausbeutung fremder Länder und Völker) gesammelt haben. Malinowski berichtet darüber, dass US-Geheimdienste bereits gegen Ende des Algerienkrieges französische Militärstrategen – darunter Fachleute für Folter – rekrutieren konnten, dass die Thesen der „großen Theoretiker für Aufstandsbekämpfung“ in die Standardwerke der US-Army und damit in die Eroberungskonzepte für Vietnam, Irak und Afghanistan eingingen und der Versuch, zumindest Teile der Zivilbevölkerung (der unterjochten Länder) zu „gewinnen“ weniger humanitär als strategisch motiviert sei. Malinowskis Recherche mündet schließlich in schierer Unerträglichkeit: “ … Die Zukunft der westlichen Kriegsführung im Zeughaus spätkolonialer Kriege zu suchen, mutet daher nur auf den ersten Blick als historische Ironie an. Von den für die Öffentlichkeit westlicher Staaten unerträglichen Elementen entschlackt (zivile Opferzahlen von mehreren Hunderttausend, Vertreibung ganzer Bevölkerungsteile, Lagersysteme), erscheint die Kopplung von vergleichsweise dosiertem Gewalteinsatz und „Entwicklungsarbeit“ eher zukunftsträchtig denn vorgestrig. Diese Politik als eine gegen „Terroristen“ gerichtete bewaffnete Aufbauhilfe darzustellen, macht den Krieg auch für postheroische Gesellschaften akzeptabel ...“ Zynischer, menschenverachtender geht’s nicht. Was der Autor hier an stinkender Masse seziert, ist beispiellos. Doch nicht minder verwerflich ist der Ton der Aufbereitung. Mich schaudert’s!