Ja, nun ist es überstanden, sagen die einen. Jetzt sind wir Weltmeister, sagen die anderen. Ganz richtig, diesmal sind wir nicht Papst, wir sind Weltmeister. Ich hab das alles minutiös verfolgt – fast alle Spiele gesehen und die nicht enden wollenden Kommentare über mich ergehen lassen. Die deutschen Profis sind – mit viel Können und etwas Glück – in den Besitz der großen Trophäe gelangt. Mercedes und Coca-Cola haben märchenhafte Gewinne eingestrichen, Helene Fischer hat ihre Karriere um eine Potenz gesteigert, und alles dröhnte nur: Tage wie diese …
Keine Frage, der Profi-Fußball bindet weltweit mehr Menschen aneinander als jede andere Sportart in jeder anderen Konstruktion. Das hat nicht nur mit dem Spiel an sich, das hat mit Identifikation, dem Wunsch nach Gemeinsamkeit, aber auch mit Nationalismus und Frustabbau zu tun. Die Menschen können für Tage und Wochen aus ihrer oft mühseligen Welt entkommen und erleben gemeinschaftlich, was ein Team gemeinschaftlich zustande bringt. Jeder von uns möchte dann glauben, dass alles so war wie verkündet und es in diesem Sinne … auch weiter geht. Dass die Arbeitswoche nach der Fanmeile ähnlich locker vom Hocker kommt wie die Urlaubswoche, die man gefesselt, lachend und saufend vor der Glotze verbracht hat.
Wo es an politischen Schwergewichten, wo es an Kreativität und Gestaltungswillen mangelt, sucht das Volk neue Helden. Sie heißen Schweinsteiger, Lahm, Müller, Götze & Co., und sie ruhen ab heute dicht neben den Göttern. Dass ihnen das nicht zukommt, begreifen sie vielleicht. Doch wie schon sollten sie gegen ein System aufbegehren, dass sie so drapiert. Da sind die Veranstalter, da ist das austragende Land, da sind die Fans, die nur eines verlangen: den Sieg. Gelingt der, dann glaubt auch der Spieler, die Krone zu Recht zu tragen, dann ist er korrumpiert, eingelullt vom Establishment, dass ihn gesucht, gepeppelt und gemeinsam mit seinen Mitspielern ausgequetscht hat. Nun nach quälerischer Ausbeutung sieht das nicht aus, den jeder von den Jungmillionären wird in Kürze mehr Kohle einheimsen als ein Hartz IVer während seines Arbeitslebens. Keine Frage: Wenn gesiegt wird, ist jeder Akteur bestens zufrieden gestellt. Nur Mercedes, Cola, FIFA & Co. (ekelhaft die überbordende Werbung!) verdienen immer. Sie haben auch diesmal ihr Monopol durchgesetzt. Der Ehrgeiz der Spieleausrichter hat das möglich gemacht. Keine Ahnung, warum sich Präsidentin Dilma Rousseff diesen Bleifuß angetan hat. Vor der WM gab es berechtigte/geharnischte Proteste wegen der z. T. unsinnigen Geldausgaben. Jetzt dürfte sich das brutal fortsetzen – befördert durch die beschämende Niederlage der eigenen Kicker. Wieder wird es um viel Geld gehen – wieder wird es für die blanke Existenzsicherung, für Gesundheit und Bildung an allen Ecken fehlen. Südafrika war bereits ein finanzielles Fiasko, Rio wird das gleiche Schicksal erleiden. Wer den FIFA-Vertrag unterschreibt, wer es zulässt, dass FIFA-Gefolgsleute die Betreiber einheimischer Würstchen- und Getränkebuden aus dem Stadienumfeld verjagen, der muss hinnehmen, dass sich Wut aufbaut. Aber auch, dass die Kassen klamm bleiben. Keine Ahnung wie Rousseff einspielen will, was die öffentliche Hand mehr emotional als vernunftgesteuert verausgabt hat. Eines der Stadien wird nun wohl den Rinderzüchtern überlassen. Die anderen dürften (rinderlos) um ihre Auslastung bangen. Das alles geht uns nichts an, das alles ist deren Sache, tönt so mancher Befragte, und zweifellos hat er Recht. Denn uns Deutsche droht weder ein finanzielles, noch ein emotionales Desaster. Unsere Geldrückflüsse scheinen auf allen Ebenen gesichert. Wir profitieren von der Gesamtlaune, der DFB kann sich seiner Sponsoren, jeder Fußballstar der Fortführung/Aufstockung seines Werbevertrages sicher sein. Und selbst der Straßenkehrer kann noch tagelang verträumt auf seine Devotionalien glotzen.
Kein Zweifel: Sicher ist Fußball in erster Linie eine Geldmaschine, dann aber – bereits an zweiter Stelle – ein Ort/ein Quell großer Gefühle. Da wird freigesetzt, was monatelang verhakt vor sich hindrückte, da wird gestöhnt, gelacht und getobt bis das Adrenalin ausbleibt. Das ist Karnevall in Rund, das ist mehr als Otto Normal so verkraften kann.
Mein Freund Jürgen und diejenigen, die 35-Millionen-Endspiel-Einschaltquote so mir nichts dir nichts ignorieren, sehen das zweifellos anders. Sie fliehen, ja verachten die Verrücktheit des Spektakels, zeigen den Mitmachern/Mitläufern (natürlich nur virtuell) den Vogel und klagen, dass zu viele deutsche fahnen, zu viele mit dem verdammten Adler und überhaupt zu viel Scheißzeug mit schwarz-rot-gold besudelt wurde. Leuten, die neben mir aufsprangen und im Entree die Nationalhymne mitsangen, hätten sie vermutlich das Fell abgezogen, wenn sie es denn zu einer Art Mut, zu dieser personellen Mehrheit gebracht hätten, die sie so verachten. Klar: Gäbe es keine Nationalstaaten, hätten wir weniger Probleme. Wir müssten nicht brustgeschwellt herumtoben, hätten keine Nationalhymne und müssten nicht stolz auf Deutschland sein. Da die Leute in anderen Ländern aber nicht anders gestrickt sind, bleibt den meisten von uns (zumindest vorerst) keine andere Wahl – vor allem, wenn gesiegt wurde.
Der verdammte Zirkus wird noch lange nachschwingen. Er hat – das kann auch der ärgste Zweifler nicht in Abrede stellen – Menschen aller Bevölkerungsgruppen aufs Tiefste vereinnahmt, er hat Freude bereitet, endlos genervt und primitive Instinkte gefördert. Jawohl: Dieser Zirkus war ein emotionaler Hammer, er war Programm, Märchenstunde, das SPIELE von Brot & Spiele. Merkel und Gauck haben daran gesogen, sich in Mannschaftskabinen intim aufgedrängt, weil das COOL oder SUPERGEIL sein musste. Sie haben Sympathien gesammelt – und das ist das eigentlich Verheerende – ihre POLITISCHE Reputation aufgemöbelt. Denn wer Fußball mag, muss ein guter Mensch sein.
Die Welt ist voller Irrtümer. Fußball als gut gespieltes Spiel gehört nicht dazu. Auch ich habe mich nicht geirrt, auch ich habe die guten Spiele genossen – so wie man Dinge auslebt, die schön, interessant und geschickt einem Ziel zulaufen. Und ich habe die düsteren Hintergründe verdrängt – so wie das vermutlich alle taten, die dem Spielrausch verfielen. Es ist schön, dass es Fußball gibt, es ist schön, dass sich so viele Menschen an ihm erfreuen können. Und es ist ganz sicher, dass dieses Gesamtspektakel nur in dieser, der bestehenden Welt des gnadenlosen Wettbewerbs so möglich ist. Auch hier gilt die totale Kampfbereitschaft (nur wer topfit und nervenstark ist, hat eine Chance), das leistungsbezogene Honorar und der Markt, gelten Angebot und Nachfrage. Sie sind es, die dem Spiel die verderblichen Blüten verpassen – ohne die es aber das von vielen so geliebte Theater … nie geben würde.
Der Bürger will seine Fanmeile – und er sollte sie m. E. auch haben. Wenn es so ist, wie die Rheinische Post schrieb, dass viele, vor allem schwache Menschen ihr eigenes Schicksal mit dem der Nationalmannschaft verbinden, wenn viele dieses totale Abtauchen sehnlichst herbeiwünschen, um irgendwann glücklicher wieder aufzutauchen, dann sei ihnen der Sieg der deutschen Gladiatoren von Herzen gegönnt. Zuletzt – am Brandenburger Tor – waren alle ganz atemlos. Sie saßen, knieten und standen, und Millionen Handy ragten der Bühne entgegen. Manche hatten hier seit acht und mehr Stunden ausgeharrt. Wo sie abblieben, sich schließlich verpissten (sie waren wohl alle dehydriert oder gepampert) weiß jetzt kein Mensch mehr. Äußerst übel, dass die Organisatoren dieses blöde „So geh’n die Gauchos (brasilianisch gebückte Haltung), so geh’n die Deutschen“ (stramme aufrechte Haltung) durchließen und dass sich Leute aus der deutschen Mannschaft für dieses postkolonialen Machwerk hergaben. Hier und eigentlich nur hier … ist der sofortige Rausschmiss angesagt!
Helene Fischer aber dürfte das ganze Gegenteil beschieden sein. Sie wurde perfekt in den Trubel eingepasst, verschmolz und siegte gleichfalls. Leider singt sie nur Schlager, leider sang sie auch diesmal nur Schlager. Doch für all diejenigen, die damit glücklich sind, die damit leben wollen, war sie am „Laufsteg“ die Größte: Atemlos und … Wahnsinn.