Als ich heute den Kommentar des WDR 5 über die Wurzeln des European Song Contest (ESC), über jahrzehntelange Emotionen und Fieber auf dieser Strecke, über wachsende Teilnehmerzahlen, sich verändernde Regularien etc. hörte, überkam mich leise Wut. Nicht nur, dass die Qualität des Spektakels eklatant gesunken ist, sprich: ein gewisses Niveau nur noch durch beispiellose Lichteffekte erzielt werden kann, die Bewertung der Beiträge ist auch längst zu einem Politbarometer geworden. Was dort wie ausgewählt wird, hält objektiven Kriterien auch nicht ansatzweise stand.
Man hasst Deutschland wegen der brutalen, von Merkel und Schäuble losgetretenen Austeritätspolitik gegenüber den südlichen Ländern, insbesondere gegenüber Griechenland. Man weiß, dass Deutschland die Vereinbarungen zur EU-weiten Inflationsrate (2%) untergraben und sich dadurch gewaltige Wettbewerbsvorteile in Europa verschafft hat. Und man misstraut Deutschland in Sachen Migrationspolitik – vor allem, weil die wiederum Länder wie Griechenland und Italien zu Lastenträgern macht und eine verabscheuungswürdige Abhängigkeit von der Türkei heraufbeschwört. Der von Merkel angeheizte Wanderungstrend Richtung Deutschland hat vielen Ländern Probleme bereitet. Und einige von ihnen zu Reaktionen veranlasst, die mehr als unpopulär, wenn nicht sogar menschenrechtswidrig sind (Schließen der Balkanroute). Die entstandene Gemüts- und Gemengelage ist europaweit kommentiert worden. Bizarres Ergebnis: Deutschland, das Land vorbildlicher Empfangskultur profitierte vom Schließen der Grenzen. Wieder und ausgerechnet Deutschland.
Man hat hier zu Lande hat kein wirkliches Interesse an der Situation in Libyen, sucht aber eine schnelle, effiziente und kostengünstige Lösung für die Eindämmung des Flüchtlingsstroms aus Afrika. Es entsteht der Eindruck, dass an der Abwehr von Flüchtlingen zehnmal stärker gearbeitet wird als an der Beseitigung von Fluchtursachen. Zudem hat die europäische Presse von Land zu Land gegen die Verteilung von Flüchtlingen in ganz Europa polemisiert und die jeweilige Bevölkerung gegen diesbezügliche deutsche Forderungen vorgespannt (Extremfälle in Polen und Ungarn).
Weiteres Thema: die Ukraine. Man hat einen Großteil der europäischen Bürger in Sachen Krim weichgekocht – ohne genau und ausführlich über die Geschichte der Krim zu unterrichten. Natürlich muss die Vertreibung der Krimtartaren unter Stalin scharf verurteilt werden. Der Rest aber ist völkerrechtlich umstritten und keinesfalls – im Sinne des Westens – sauber sortierbar. Greift man weiter, dann wird schnell deutlich, dass das Ukraine-Problem in seiner Gesamtheit weniger ein Problem von Freiheit und Selbstbestimmung, sondern eines von Korruption (Briefkastenchef Poroschenko!), kapitalistischen Wildwuchs und Staatsbankrott ist. Ein politisches Lied zum TeilThema Krim gehört in ein Liedermacher-Festival, aber nicht in den ESC, wo es mit populistischem Kalkül verwurstet wird.
Unter den politischen Gegebenheiten ist ein ESC von Haus aus kompletter Unsinn, weil Jurys und die jeweiligen Bevölkerungen (alles nicht repräsentativ!) nicht oder kaum die Leistung der Sänger/Musiker bewerten, sondern den jeweils aktuellen Geruch des Herkunftslandes. Folglich ist es auch unsinnig, in Deutschland über eine neue Form des Vorentscheids, andersartige Castings oder neue Chefs zu reden. An der grundsätzlichen Sachlage/Stimmung wird das nichts ändern. Deutschland wird auch künftig auf letzten Plätzen landen. Dafür sorgt ganz maßgeblich die egoistische und z. T. menschenverachtende deutsche Politik. Aber über diesen Zusammenhang spricht natürlich niemand.