Gestrafft oder abgespracht?

Uns wird zunehmend übel genommen, wenn wir sorglos mit der Sprache umgehen. Sorglos nicht im Sinne grammatikalischer Lie- derlichkeit, nicht im Sinne falsch gewählter Worte. Nein: sorglos, was Inhalt, Bedeutung und Auslegung angeht. Wir haben uns im Zeitalter der Gleichberechtigung, der Metoo-Debatte, der Dis- kussionen um Aufarbeitung, Gender, Ethik und Menschenrechte von vielen Worten, die wir zunehmend als „sprachlich entgleist“/ verbrannt empfanden, verabschieden müssen. Vom Neger, vom Kolonialwarenladen und Schwarzen Kontinent ebenso wie von Schwuchtel, Trany, von ausschließlich maskulin geprägten Begriffen (der Führer, der Führerschein, mannhaft, Mannschaft, Häft- ling, Bruderschaft, versöhnen, verbrüdern, Brüderschaft, seinen Mann stehen etc; Schöpfer und Gott bleiben – warum auch immer davon ausgenommen), von martialischen bis furchtbaren Wort- schöpfungen wie mit der Wurzel ausreißen, bis zur Vergasung, ausgemerzt

Vieles davon ist Jahrzehnte bis Jahrhunderte lang in Gebrauch gewesen. Heute wird es ersetzt, kurvenreich umschifft oder pein- lichst vermieden. Während die gerechte Bezahlung von Frauen, ihre Führerschaft in Dax-Unternehmen noch erkämpft werden müssen, schlägt man sich unten mit extremen Wortbildungen durch. Liebe KünstlerInnen heißt es da, liebe Künstler*innen oder liebe Künstler_innen, wobei nirgendwo geregelt ist, was wann wo wie anzuwenden ist. Da strunzt wild umher, wer partout Gleich- berechtigung sucht und sich mit Formfragen zu befriedigen hofft.

Mit der Zuwanderung von Flüchtlingen geraten Worte/Wortschöp- fungen wie Flüchtlingsprobleme oder Flüchtlingswelle  ins Visier

der Kritikaster, weil ja nicht die Flüchtlinge und schon gar nicht eine aus ihnen gebildete Woge die Sachverhalte beschreiben – weil ja nicht Flüchtlinge sondern die Methode, wie man mit ihnen um- gehe, das Problem darstelle und nicht die Masse. Das Individuum müsse betrachtet werden – er, der leidende Mensch.

Vielerorts gibt es bereits Sprechverbote – vor allem auch für Ost- deutsche, die DDR-typisches Sprachgut salonfähig machen möch- ten oder altes, aus der Nazizeit eingesickertes einfach mitschlep- pen.

Ich komme mit deiner Sprache, deinen Formulierungen nicht zu Recht, fuhr mich ein Bekannter kürzlich an. Und ich wusste einmal mehr, dass die deutsche Einheit zwar auf dem Papier, aber noch lange nicht im Leben und in der Sprache vollzogen war.

Künftig dürften uns also nicht nur die neue deutsche Rechtschrei- bung und die ost-west-deutsche Wortsortierung, sondern auch die ethisch verordnete Wortvernichtung Mühe bereiten. Eine Mühe, die der Mühe wert sein kann – aber nicht muss. Bleibt zu hoffen, dass deutsche Schulbücher etwas Ordnung schaffen – so sie denn künftig nicht in Kurzdeutsch verfasst werden.

aus „ich habe euch gewarnt“ (Essays 2021)