Eine lästerliche Abwägung

Keine Frage: Literaten haben es schwerer als Komponisten oder Bildende Künstler. Nicht in physischem Sinne – Musiker und Bildende schleppen schließlich mehr mit sich herum – nein: im übertragenen Sinne. Literaten müssen allein mit Worten im Gepäck Eindruck schinden. Genauer gesagt: Sie müssen Menschen durch bloßes Blättern und Sprechen so vereinnahmen, dass sie quasi gebannt sind. Wobei es selbst den Raffiniertesten kaum gelingt, fünfzig oder hundert Hörwillige, geschweige denn Massen zusammen zu bringen. Literaten agieren deshalb in eher kleinen Räumen, was ihr Image mehr deckelt als aufwertet. Soweit die erste, die schlechte Nachricht.

Während die Ergüsse von Musikern und Bildenden Künstlern weltweit gesehen und gehört und deshalb auch frei bejubelt und zerpfiffen werden können, fristen die Literaten – vor allem diejenigen, die zwar schreiben, aber nicht sprechen können – ein eher missliches Dasein.

Selbst wenn man die Musik, Malerei oder Bildhauerei eines Künstlers nicht mag, so ist das Produzierte doch unabhängig von Sprache, Ethnie oder Religion erfahrbar. Musik und Kunst sind schnell als das zu entlarven, was sie sind, während das geschriebene Wort – so es denn wahrgenommen wird – oft Rätsel aufwirft. Selbst bei Kenntnis der Sprache kommt man Gedichten häufig nie auf den Sinn. Der Prosa muss man häufig viel Zeit einräumen.

Literaten, Komponisten und Bildende Künstler bedürfen des Interpreten – nicht nur des Lesenden, des Musizierenden und des bunt herumspringenden Galeristen, nein: meist auch des Rezensenten, wobei dieser erklären, dabei aber auch befördern oder vernichten kann.

Der Lesende wird zum Ausdruck bringen, was ein Fremdautor oder aber er selbst hervorgebracht hat. Liest er aber Kafkaeskes, braucht er den, der den Kauderwelsch auswringt, aufdröselt und verständlich macht.

Dem Virtuosen ist so kaum zu helfen. Er spielt vom Blatt, was der Komponist vernotet hat. Wobei oft unklar ist, ob das so gemeint war wie draufsteht. Da der Spielraum für Auslegungen oft schwankt, ist der Rezensent unschlüssig. Er kann zwar mutmaßen, was dem Schöpfer in die rechte Hirnhälfte geriet – in die Note selbst aber kommt er nicht.

Der Galerist ist auf das Kunstwerk des Bildenden meist eingestimmt. Geht es aber um Details, ist er oft ratlos. Weil der mögliche Deuter vor sich hin schweigt.

Wenn es schlimm kommt, liest der Schriftsteller aus seinem Werk und wird missverstanden. Wenn es schlimm kommt, partitourt der Komponist schräg und wird ausgepfiffen. Und der Maler? Im übelsten Fall entwirft er Porträts von Menschen, die ihr Abbild verfluchen.

Damit nicht genug.

Allzu schnell sind Zuhörer und Zuschauer bereit, einen Schriftsteller zu schassen. Vor allem dann, wenn der eigene Grips fehlt, wenn der Autor sich weigert, den herkömmlichen Mustern von Prosa und Lyrik, von Satire oder Versmaß zu folgen.

Auch der Bildende Künstler ist schnell unten durch. Vorzugsweise dann, wenn er nicht in der Lage ist, sich selbst zu interpretieren. In diesem Fall müssen seine Werke für sich sprechen. Was Kunstbetrachter auf heillose Bahnen lenkt, zum anderen aber auch sogenannte Experten auf den Plan ruft. Die dann je nach Lust und Beziehung glorifizieren oder einreißen.

Den Komponisten trifft es in der Regel spät, weil erst spät auf das, was er ablässt, reagiert wird. Nach dem Schlusstakt geht gewöhnlich die Post ab. Je nach Empfinden freundlich, rabiat oder wie im Kühlhaus. Hier und da mag sich ein schräger Schöpfer erfolgreich hinter den Interpreten verschanzen. Fragt sich, ob die dann mitspielen.

Der Literat tritt mit seinem Buch bzw. Manuskript auf. Beides ist vergleichsweise leicht, was den leichtfertigen Betrachter in der Annahme bestärkt, dass es Leute dieser Zunft überhaupt leicht haben. Denn sie müssen weder Notenständer noch Instrumente, weder Bilder noch Skulpturen bewegen. Theoretisch stimmt die Bewertung. In der Praxis aber ist es auch dem Schriftsteller verboten, nackt zu erscheinen. Die Zeiten mit bloß Tisch und Wasserglas sind vorbei. Es sei denn, der Literat heißt Trojanow oder Schätzing.

Der weniger bekannte Autor muss heute einen Musiker oder Bildenden Künstler dazu nehmen, um überhaupt Publikum anzuziehen. Oft mit dem Ergebnis, dass Musik und Bilder beklatscht werden, er selber aber unbewundert vom Platz muss. Geradezu haarsträubend ist das, wenn der Musiker „nur“ covert und der Bildende Künstler abwesend ist.

Aber es gibt Ausnahmen, zum Beispiel die Poetry-Slammer. Sie können die Schwächen in ihren Texten durch beherzten Vortrag, durch Fingerzeige, Kniebeugen, heftiges Hin- und Herspringen etc. so aus dem Bewusstsein der Zuhörer drängen, dass vornehmlich das Gehampel und weniger die Literatur bewertet werden. Hier sind sowohl die Musiker als auch die Bildenden Künstler im Nachteil, denn solcher Art Ablenkung auf Nebenschauplätze gelingt ihnen kaum. Es sei denn, der Komponist pfiffe auf seine Musik und der Bildende griffe zu Pinsel und Hackebeil um bildnerisch nachzumessern.

Was Bildende und Musiker betrifft, so frage ich mich oft, warum die Künstler genannt werden, während Literaten dieses Titels kaum teilhaftig werden. Immer wieder hört man, dass sich der Künstler um Geige oder Piano bemühe. Warum aber gerade er, der in der Regel kein Komponist ist, so ins Licht gerückt wird, erschließt sich nicht. Beim Schreibenden ist zumeist klar, dass Text und Sprache von ihm stammen. Die Wortkunst steht m. E. –  und dabei verweise ich gern mal auf Thomas Mann – meilenweit über den armseligen Schnitzereien meines Nachbarn Benno, der sich auch Künstler nennt, aber kaum einen Satz herausbringt. Tatsächlich kommt es vor, dass Bildende weder gebildet sind, noch ausreichend sprechen oder schreiben können und folglich Null Zugang zur Literatur haben, während doch Schriftsteller oft Geige spielen oder Blockflöten schnitzen.

Keine Angst: Ich will es nicht auf die Spitze treiben. Auch unter den Bildenden gibt es natürlich ganz Große – meist im Gestalterischen, zuweilen auch im Geschäftlichen. Und es ist wirklich eine doppelte Kunst, Bilder und Plastiken so zu gestalten, dass sie faszinieren, gleichzeitig aber auch den Erwerber nötigen, sie sofort zu kaufen. Was schon mal bedeutet, dass freie Flächen bereitgestellt oder andere bereits gehängte oder gestellte Werke in den Keller geräumt werden müssen.

Tatsächlich gibt es in der von Frieden bestimmten Landschaft kaum mehr Platz, und die Frage „Wohin mit der künftigen Kunst, wohin mit den künftig noch brotloseren Künstlern?“ wird täglich dringlicher.

Es widerstrebt mir, von Inflation zu sprechen, aber wir erleben sie natürlich – ganz gleich, ob es um die Elaborate der Schreibenden, die Sirenen der Komponierenden oder die Mal-, Stich- und HauErgebnisse der Bildenden geht. 100.000 Schriftsteller – oder solche, die sich so nennen – allein in Deutschland. Und dann all diejenigen, die sich einbilden, Komponisten oder Bildende zu sein. Von den KI-gesteuerten Gedichten, Kompositionen und Bildern will ich gar nicht sprechen. Sie dürften – und darauf komme ich jetzt – zu noch fieserem Stau beitragen.

Alles gärt, alles überschwemmt sich. Nur Misserfolge, Anonymität und Ausgrenzung könnten hier Abhilfe schaffen – gefolgt von gnadenloser Nachlassvernichtung. Aber wer ethisiert das?

Keine Frage: Genau das wird nicht stattfinden. Folglich werden wir uns – wie eh und je – dem Sortieren unterwerfen. Hier allerdings haben es Literaten und Komponisten – oder sagen wir besser: deren Erben – vergleichsweise einfach. Sie hinterlassen Überschaubares für Reißwölfe und AsservatenKammern. Die Bildenden dagegen, jene, die ein Leben lang Keller, Kammern und Dachböden mieten mussten, um ihre Leinwände und Gipsfiguren zu lagern, stellen die Gesellschaft vor unlösbare Aufgaben.

Vielleicht ist es dieser Unterschied. Vielleicht freut es die Literaten, dass sie weder mir noch dir solche Last aufbürden. Es bleibt ein Blatt, es bleibt ein Buch. Möglich, dass beides unaufdringlich in einem Schrank landet – wo es, bis es auffällig wird – schlicht vor sich hin liegt. Möglich, dass beides irgendwann zur Brust genommen, vorzeitig entsorgt oder als Familienwunder zeitlos verwahrt wird. Das Schicksal von Worten, von Sätzen und Texten bleibt dabei ungewiss. Sicher ist nur, dass sie anders gemischt wieder auf- oder abtauchen.

Hier aber schließt sich der Kreis, denn Musiker und Bildende können – zumindest, was das angeht – ähnlich gestellt sein. Wenn ihre Nachkommen genauso wie sie … tönen, pinseln, spalten, zersägen oder einfach nur … in die Asche starren.