Es ist mehr als empörend, wie derzeit mit so verdienstvollen Leuten wie Wolfgang Thierse und Gesine Schwan umgegangen wird. Der übersteigerte Kampf um Identitäten hat diejenigen, die um Minderheitenschutz bemüht haben, längst diskreditiert. Sie haben der Gesellschaft einen Bärendienst erwiesen und linkes Gedankengut weiter abgehängt.
Um die Diskussion noch einmal ins Blickfeld zu ziehen, rekapituliere ich kurz: Da gab es zunächst die Thierse-Interview mit der FAZ. Ich kommentierte es kurz https://www.stoerfall-zukunft.de/bleibt-auf-dem-teppich-mit-eurem-identitaetsgetoese/
Dann folgten überaus hitzige Debatten:
Man glaubt es nicht. Aber im SPIEGEL Nr. 10/21, S. 24 sortiert sich das Ganze zu einem SPD-internen GenerationenKonflikt:
Duell der Generationen
Ältere Genossinnen und Genossen wie Wolfgang Thierse setzen auf traditionelle Kernthemen der SPD, jüngere um Parteichefin Saskia Esken engagieren sich in sozialen Medien für Minderheiten wie die Queer-Community. Nun kracht es ordentlich.
Wolfgang Thierse hat dieser
Tage eine Mail bekommen.
»Tja, selbst schuld. Wer schwulenfeindliche,
reaktionäre, hinterwäldlerische,
faschistoide Dreckscheiße
von sich gibt, muss mit so einer Reaktion
rechnen. Treten Sie zu den Religions –
faschisten von der Union über und werden
Sie dort glücklich. Ein verärgerter schwuler
Genosse.«
Der Sozialdemokrat und ehemalige
Bundestagspräsident Thierse sitzt in seiner
Berliner Wohnung, als er die Mail am
Telefon vorliest. In seiner langen politischen
Karriere stand er immer auf der Seite
der Progressiven. Er war im Widerstand
gegen das DDR-Regime. Später kämpfte
er wie kaum ein Zweiter gegen die Gefahren
des Rechtsextremismus. In seiner SPD
zählte er zum linken Flügel. Nun gilt er
plötzlich als reaktionär, als alter weißer
Mann von gestern, der angeblich den Anschluss
an die Gegenwart verpasst hat.
Die »faschistoide Dreckscheiße«, die
Thierse von sich gegeben hat, war ein Gastbeitrag
für die »FAZ«. Sprachlich geschliffen
hatte er darin sein Unbehagen an Auswüchsen
der sogenannten Identitätspolitik
geäußert. Thierse beschrieb seine Sorge
um eine Gesellschaft, die in Partikular –
interessen zerfalle. Er erlebe neue Bilderstürme,
heute heißt so was Cancel Cul ture.
Zitat: »Linke Identitätspolitik ist in der
Gefahr, die notwendigen Durchsetzungsund
Verständigungsprozesse zu verkürzen
und zu verengen«. Thierse beklagte auch
etwas, das viele Sozialdemokraten seit Jahren
umtreibt: »Themen kultureller Zugehörigkeit
scheinen jedenfalls unsere westlichen
Gesellschaften mittlerweile mehr
zu erregen und zu spalten als verteilungspolitische
Gerechtigkeitsthemen.«
Man muss nicht jede Sorge aus Thierses
Essay teilen. Aber die Entrüstung, die seine
Beobachtungen zum Debattenklima
des Landes zur Folge hatten, erstaunte
dann doch – insbesondere der Hass vonseiten
jüngerer Netzaktivisten. Vielleicht
ist es gut, dass Thierse, 77, viele der Beschimpfungen
gar nicht mitbekam, weil
sie über Twitter und Co. liefen. »Ich schau
nicht ins Netz«, sagt er. »Ich bin da nicht
angeschlossen und muss das in meinem
Alter auch nicht mehr sein.« Das mag auch
zu Entfremdung führen.
Was Thierse jedoch erreichte, war die
Reaktion seiner Parteivorsitzenden Saskia
Esken, die sich der Queer-Community und
anderen Minderheiten eng verbunden
fühlt und viele Stunden am Tag auf Twitter
verbringt. Um ihre Solidarität zum Ausdruck
zu bringen, wollte Esken einzelne
LGBTQI-Vertreterinnen und Vertreter zu
einem Gespräch einladen. Die Worte, die
sie dann in der gemeinsamen Einladung
von ihr und Parteivize Kevin Kühnert
wählte, hatten es in sich: Man sei »beschämt
« über die »Aussagen einzelner Vertreter*
innen der SPD«, die ein »rückwärtsgewandtes
Bild der SPD« zeichneten, hieß
es darin. Dass Kühnert Eskens Textentwurf
noch entschärft und anonymisiert
hatte, machte es kaum besser. Es war trotzdem
zu erkennen, wer mit »SPD-Vertreter*
innen« gemeint war.
Thierse reagierte umgehend. In einem
Brief an Esken bat er darum, ihm öffentlich
mitzuteilen, ob sein »Bleiben in der
gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert
oder eher schädlich« sei. Er habe
»Zweifel, wenn sich zwei Mitglieder der
Parteiführung von mir distanzieren«.
Damit eskalierte die Lage. Esken, die
sich bis dahin geweigert hatte, persön –
lichen Kontakt zu Thierse aufzunehmen,
ersuchte plötzlich um ein Telefonat. Generalsekretär
Lars Klingbeil und Ex-Parteichef
Martin Schulz wurden ins Krisenmanagement
eingebunden und redeten
auf Thierse ein, das Gesprächsangebot
doch bitte anzunehmen. Am Mittwochnachmittag
telefonierten Esken und Thierse
tatsächlich miteinander. Doch danach
hatte zumindest Thierse nicht den Eindruck,
dass die Angelegenheit geklärt sei.
In der kommenden Woche soll es ein weiteres
Gespräch geben, diesmal auch mit
Kühnert.
Handelt es sich hier um den Streit dreier
Sturköpfe, die sich schon seit Jahren in
chronischer Abneigung verbunden sind?
Oder offenbart sich vielmehr ein Kulturkampf
zwischen Vertretern der jüngeren
und der älteren Generation? Zwischen
einer vermeintlichen Ignoranz gegenüber
dem Schicksal von Minderheiten und einer
ausgeprägten Sensibilität für deren Lebenslage?
Für Letzteres spricht auch das Beispiel
von Gesine Schwan, der Vorsitzenden der
SPD-Grundwertekommission und früheren
Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin.
Auch sie war mit den Be –
griffen »beschämend« und »rückwärts –
gewandt« gemeint. Schwan, 77, hatte nicht
nur Thierse in einem Gastbeitrag für die
»Süddeutsche Zeitung« verteidigt. Zuvor
hatte sie mit einer von ihr moderierten
Onlinediskussion der Grundwertekom –
mission den Unmut vieler Schwuler, Lesben
und nicht binärer Menschen auf sich
gezogen.