Wenn man heute die Werte-Diskussionen verfolgt, gerät man schnell in Kontroversen. Denn einige, für meine Begriffe sehr einseitig aufgestellte Experten verkürzen den Begriff – auf die um sich greifende „Vergeldlichung“ aller Dinge https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wer-kein-was-der-ist-ein-nichts. Das greift zu kurz!
Wenn man heute als Mittsiebziger den Verlust von Werten beklagt, kommt recht schnell die Frage, was man damit denn meine. Bläst man dann lehrerhaft ins Horn, geht nichts mehr. Ihr mit eurer antiquierten Moral, tönt es aus den Mündern der Jüngeren, und wo dies wegbleibt, entnimmt man es den Gesichtszügen des Gegenüber – eines Menschen, der sich schnell auf etwas wie Anstand besinnt und das Ganze eher denkt, denn herausschreit. Richtig, etwas Anstand gibt es noch – ein wenig Achtung vor denen, die »alles aufgebaut« haben. Aber diese Achtung schwindet, und irgendwann wird gelten, was die Generationen nach uns bestimmen. Völlig richtig so und einfach vorstellbar, dass es diesen Konflikt heute und morgen ebenso gibt wie in allen Epochen vor uns. Und doch tut sich derzeit ein Graben auf, der tiefer ist. Einfach einschneidender, weil der Zeitgeist quasi im Progressivmodus alles wegwalzt. Und so ringen die lawinenartig anwachsenden Erkenntnisse mit den gleichfalls gigantischen IT-Beschleunigern dieser Welt und … gebären die modernen Harlekinaden. Was Wunder, dass uns da auch der letzte Blick verengt wird – der auf die Heiligtümer der Alten, der auf die Manns, Klemperers, Tucholskys, Beethovens und Rembrandts – ach viel einfacher – schon der auf Pestalozzi, denn mit dem Lehren, dem ganz einfachen Vermitteln und Lernen sieht’s ja ebenfalls mau aus. Wer sich vorstellt, dass nur 6 % der Deutschen regelmäßig ein Buch lesen und der Rest das überhaupt nicht oder selten tut, ahnt, dass da mehr zu Bruch geht als nur Algebra. Und wer hinzunimmt, dass der Durchschnittsdeutsche täglich mehr als drei Stunden vor dem Fernseher sitzt, dass 500.000 PC-Junkies fast pausenlos in ihre PC, Playstations und Wii-Schaufenster starren und ein erheblicher Rest Gauklern und Slapstickern anheimfällt, muss doch fragen, ob das nun die neue Zeit sei http://www.rp-online.de/leben/gesundheit/psychologie/was-gegen-die-internetsucht-bei-kindern-hilft-aid-1.5598679.
Gewiss, hadern allein gilt nicht, und es wäre Schwarzseherei, wollten wir Gegenwart und Zukunft mit allein diesen Zeichen versehen. Vieles hierzulande läuft gut. Was nicht heißt, dass wir die Mängel durchwinken dürfen. Wie aber sag ich’s meinem Kinde? Wie sage ich’s überhaupt wem? Wie kann Otto Normalverbraucher in einer Welt, die von Hedgefonds und Megaphonen regiert ist, überhaupt etwas checken? Weiß nicht, sagt Otto N., und wir glauben es ihm.
Die Wunde indes geht tiefer. Heute sind es nicht nur die weniger gebildeten Leute, die ratlos ins Verwirrspiel schauen. Heute trifft es fast jeden. Denn wer Werte vermitteln will, muss sie auch feststellen. Wie aber soll man? Ob nun Boulevard-Zeitung oder Privat-Fernsehen: Viele von uns sitzen täglich irgendwelchen Verkündern auf, folgen gestylten Botschaften, die quer über den Erdball rasen. Ganz richtig, da geht es meist um Einzeltäter – denn oft genug ist es ein Redakteur, ist es ein Kritiker, der die Story lostritt – ja vielfach lostreten muss, weil es Umsatz, Quote, Eitelkeit oder auch ein korrupter Chef einfordern. Dass so ein Mensch dann aber ganze Heerscharen von Lesern, Zuhörern und Zuschauern ins Grausen, Schwitzen oder ungläubige Staunen versetzt, ist harsch. Doch viel verheerender scheint, dass wir das alles überaus schnell für wahr und wesentlich, sprich: für das halten, was Mehrheiten, ja vielleicht auch Fachleute, mittragen.
In seltsamer Ergänzung versetzen uns die populistischen Ergüsse der Politiker in wieder andere Scheinwelten. Vor allem im Vorfeld von Wahlen werden Meinungen transportiert, für die es kaum Hintergründe, geschweige denn solide Berechnungen gibt. Wer schon bezahlt, was er vollmundig anpreist? Die Kehrseite der Medaille sind wir, wir, die Normalbürger und Steuerzahler. Wollen wir unser Denken und Wissen über die Hörschwelle heben, dann wird es schwierig. Wer schon will wahrhaben, dass Otto N. auch etwas denkt, auch etwas weiß und will. Kaum jemand. Es sei denn, dass besagte Wahlen anstehen, es sei denn, Otto N. kollidiert mit einem Prominenten, ist pädophil, nimmt eine Geisel oder dreht anderswie durch. Dann, o Wunder, wendet sich für Sekunden die Aufmerksamkeit. Spotgleich erfasst ihn das mediale Nebelwerk, seziert und gratiniert ihn.
Allenfalls die Zuspitzungen sind es heute, die Überhöhungen, die maßlosen Übertreibungen, die extrovertierten Performances und Lügen, die Aufmerksamkeit erregen. Allzu vertieft ist der Zeitgenosse in Existenzkämpfe, in Maloche und in die Spielchen, die ihm am Rande bleiben. Da meldet sich manch Schüchterner vergeblich zu Wort, holzt manch Schriftsteller seine Stifte sinnlos ab und der Virtuose vergeigt, was ohnehin niemand wahrnimmt. Es ist nicht »en vogue«, auf Sparflamme zu kochen. Es ist die Zeit der Kreissägen, der Gehirnzerfleischer und Grenzgänger. Brichst du kein Tabu, dann brech’ ich es! Ja selbst dem Wunder ist es verboten, so ohne Sprüh, so unverpackt spaßlos daherzukommen. Also bemüht euch!
Was dann heißt/hieß: Künstler Peter Gilles übergieße dich mit Eigenblut und hacke auf eine gemalte Vagina ein oder Bildhauer Arnold Skip lege dich objektnah, vor allem aber nackt unter eine Glasplatte, Wolfgang Flatz, springe nackt umher und lass dich mit Dartpfeilen bewerfen, Kutzkin treib es noch bunter und lass dich kopfstehend und nackt eingraben http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/hamburg-aktionskuenstler-graebt-sich-nackt-mit-oberkoerper-an-der-alster-ein/12657054.html oder Schlingensief brülle auf der Bühne »Tötet Möllemann«, Elmar Brand führe – ohne dich als Schröder-Imitator zu outen – ein Telefonat mit Reich-Ranicki. Margot S. versichere, dass du zehn mit Nitrofen verseuchte Hähnchenschenkel verspeist hast, Wafaa Bilal lass dir ein Kamera-Auge in den Dickschädel implantieren, Gunther von Hagen unterbreite dein Online-Angebot für kundengerecht prä- parierte Leichenteile, und Damien Hirst pflanze fleißig Diamanten auf den Platinabguss eines Babyschädels.
Die Reihe ließe sich fortsetzen – etwa mit den Versuchen von Thomas Ruff, die Pornographie als Kulturgut zu etablieren, mit den »sextrovertierten« Romanen der Französinnen Angot und Millet, dem listigen Beecroft-Versuch, magersüchtig und nackt posierende Girls als Kunstwerk auszugeben, mit den fleischlichen Hock-, Steh-, Sitz- und Liegeleben von Spencer Tunik am Düsseldorfer Ehrenhof oder – leicht verfremdet – mit Jonas Kittels »Der SS- Mann in mir«.
Nun, Kunst gibt sich fließend. Sie festzuzurren fällt leider/Gott sei Dank schwer, und doch steht im Lexikon das Unerlässliche. Definitionen allerdings fassen wenig, und vielleicht ist es gut, dass hier Freiheit herrscht. Der Raum zwischen verschämt/pikiert und total life, zwischen talentrelevant und geldbewegt, ist kostbar.
Richtig, auch die Werbung gehört in diesen Verriss – zumindest teilweise. Auch sie entwertet, auch sie macht Müll und Triviales zum Ersatzstoff für Leben. Blubb vor dem Babygeschäft wirkte noch harmlos, aber »Geiz ist geil« zielt genau dahin, wo schwache Gemüter fies werden, und »mehr Handlung in Pornos« meint deutlich: wir enttabuisieren euch schon! Ständig und immer wieder begegnet uns dieses Greifen, dieses Hangeln nach dem Kick. Die Show muss auf immer neue Weise konsternieren und Rendite bringen.
Unklar, wie das weiter geht. Unklar, ob wir künftig das Vernebeln hinnehmen oder … gegenhalten. Noch könnten wir als Seismographen erkannt werden. Fragt sich, wer hier … wie lange … Amplituden checkt.
aus „abgebloggt“ von Ulrich Scharfenorth, Heiner Labonde Verlag 2011, Grevenbroich