Sichtwechsel

Meine Damen & Herren: Wir schreiben den 20. November 2019. Seit dem Mauerfall sind dreißig Jahre vergangen. Der neunte dieses Monats markiert ein wichtiges Datum, eines, das m. E. für den Feiertag weit besser getaugt hätte als der 3. Oktober. Wie auch immer: Ich werde wegen dieses Missverständnisses weder spontan aufheulen noch -jauchzen. Und ich warne Sie: Wenn Sie jetzt etwas Vielstimmiges über Mauerstürmer und -spechte erwarten, wenn Sie meinen, dass ich diejenigen, die an diesem 9. November 1989 in Licht standen, ein weiteres Mal aufblitzen lasse, dann irren Sie.

Unter dem Strich freue ich mich zwar über das neue Deutschland, will dieses Gefühl aber durchaus als gemischtes ausdeuten. Auch, weil das allseits Erwartete vielfach oberflächlich, einseitig und ausgelutscht daherkommt. Dass ich schwarz-rot-kritisch auf das Ganze zugehe, hat auch mit Lichtenhagen und Chemnitz zu tun.

Etwas missmutig frage ich, warum es zum Mauerfall so wenig Statistik gibt. Niemand weiß schließlich, wer von den frühen Stürmern heute arbeitslos oder im Westen ist, wer Frau Merkel in die Suppe spucken oder aber sie anhalten möchte, selbige auszulöffeln. Etwas missmutig frage ich, wer mit der LINKEN, mit Friedrich Merz,  mit den GrünGesettelten oder mit Höcke über die Boulevards deutscher Großstädte trampelt – und mehr hinnimmt als wirklich in Frage stellt.

Ja, meine Damen und Herren, es wird Sie wundern, dass ich die Welt aus dem Orchestergraben heraus auffalte, die Bühne als solche umkehre, um von den Brettern ins Backstage zu stürzen –  in ein Dahinter, das für jene DIE  WELT, für andere das JIBBET NICH bedeutet.

Wenn Sie glauben, dass die Fotos von damals so etwas wie repräsentativ sind, dass diese Fotos die Stimmung in Gänze spiegeln, dann sind sie medien-und nasgeführt auf dem Holzweg. Ganz zweifellos stand die Mehrheit der Ostler im Schock, wenn nicht im Widerstand – und das tage- und wochenlang. Wäre es anders gewesen,  dann hätte sich die Masse der DDRler quasi aus dem Stand heraus auf Deutschland West ergießen müssen. Wir hätten ein Chaos erlebt. Niemand und nichts wäre vorangekommen, nichts hätte funktioniert, denn 17 Millionen hätten nicht nur die Wege verstopft.

Doch nichts dergleichen, nichts in diesem Ausmaße geschah.

Was ich sagen will, ist einfach: All diejenigen, die damals nicht zu Mauerspringern und -spechten gehörten, also auch nicht großformatig in Journaille und TV verwurstet wurden, all jene hat einfach niemand zur Kenntnis genommen, geschweige denn angehört. Ich spreche nicht nur von den „staatstragenden“ ParteiGenossen oder Stasispitzeln, denen plötzlich das Kinn auf den Kehlkopf schlug. Nein! Ich meine die undokumentierten Millionen, die zwar reisen, aber nicht auf Dauer im Westen bleiben, geschweige denn zu diesem Westen gehören wollten. Denen schwebte (ganz sicher mehrheitlich) eine reformierte DDR vor.

Spätestens als die DM eingeführt, als Betriebe und Existenzen ausradiert waren, wurde man dieser Menschen gewahr, gab es erste Bilder. Bilder von Enttäuschten, Zurückgelassenen, von Menschen, die ihre Biographien auf dem Müll wussten, Menschen, die nichts von dem, was lieb und teuer schien, wiederfanden. Die stattdessen auf bunte Büchsen stießen, auf Coca und Mac. Menschen, die schnell spürten, dass ihre Bande zerrissen. Die in der Folge resignierten oder ein hässliches Wutgeschrei ausstießen – und nicht erst seit gestern AfD wählen.

Keine Frage: Alles zu erfassen, all das mitzugreifen, was dazugehört, macht die Sache schwer und das Feiern zur Prozedur. Denen, die aus politischer Verfolgung heraus ins neue Deutschland vorstießen, sei es gegönnt, das Feiern. Mit ihnen und den aufrechten Linken stoßen wir an. Nicht aber mit jenen, die Chemnitz und Dresden zur Hölle machen, nicht mit denen, die Chemnitz und Dresden mit Mob und Faschismus gleichsetzen und genauso wenig mit denen, die auch heute noch DDRische Halbbilder verbreiten und von blühenden Landschaften schwätzen.

Die, bitte schön, lassen wir heute außen vor.