Das derzeitige türkische Regime ist einer der größten Risikofaktoren, wenn es um den Frieden in Mittelost und um die Zukunft Europas geht. Denn Erdogan tut derzeit alles, um seine Großmacht-Ambitionen – sei es auf dem Wege der Re-Islamisierung, der Kurdenknechtung, der Einschränkung von Presse- und Meinungsfreiheit, durch heuchlerische Deals mit Europa und indirekte, wechselseitige Unterstützung des IS – durchzusetzen. Dazu kommen Attacken gegen Moskau, die die Syrienkonferenz aufs Äußerste gefährden https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/kaliber-eskalation. Da die Türkei Hauptschnittpunkt der Balkan (Flüchtlings)Route ist, sitzt sie zudem an einem weiteren zentralen Hebel, der viel Geld und neuen Einfluss in Europa verspricht. Frau Merkel kniet geradezu vor Erdogan, obwohl völlig unklar ist, ob die von der EU versprochenen 3 Milliarden Euro wirklich bei den Flüchtlingen ankommen. Die sollen in jetzt schon bestehenden Lagern so versorgt werden, dass sie dort bis zum Friedensschluss in Mittelost ausharren können http://taz.de/Gipfeltreffen-EU-Tuerkei/!5256071/. Frau Merkel schwebt vor, dass diesen mehr als zwei Millionen Menschen auch Arbeitserlaubnisse erteilt werden, was in der derzeitig schlechten wirtschaftlichen Lage der Türkei viel Sprengstoff bedeuten würde. Denn viele Türken und vor allem Kurden sind heute arbeitslos.
Ich glaube keinesfalls, dass Erdogan alle Wünsche der Kanzlerin/der EU erfüllen, wohl aber auf Visafreiheit von türkischen Bürgern und mehr Tempo bei den EU-Beitrittsverhandlungen drängen wird. Ein schneller Friede in Mittelost, nähme ihm die Chance, all seine Forderungen durchzubringen. Folglich wird Erdogan sibyllinisch handeln -den Friedensprozess plakativ gut heißen, im Backstage aber das Gegenteil befördern. Die Russen zu attackieren bedeutet heute zweierlei: Man könnte sie aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet verbannen und dort die angestrebte Pufferzone errichten, was die syrischen Kurden (YPG) dezimieren, den IS aber gleichzeitig auf (gut nachbarlichem) Abstand halten würde. Die Russen zu attackieren heißt auch, deren Bombardements gegen Tanklastzüge zu stören. Die nämlich bringen das vom IS geförderte Öl regelmäßig auf zwei Routen und in großen Mengen in die Türkei https://www.freitag.de/ausgaben/4815. Alles, was heute zum Austrocknen des IS unternommen werden müsste (Unterbindung des Ölhandels, der Finanzströme etc.), schadet auch dem türkischen Establishment.
Eine Regierung, die derart restriktiv/verbrecherisch mit den Kurden und ihren eigenen Bürgern umspringt, die weit davon entfernt ist, Menschenrechte zu garantieren, kann nicht ernsthaft unser Partner sein. Folglich müssen Merkel und Co. sehr viel mehr Anstrengungen darauf verwenden, die Fluchtursachen zu bekämpfen, als heuchlerischen Versuchen nachzugehen, Erdogan für die Eindämmung der Flüchtlingsströme dienstbar zu machen. Denn den Beitritt der Türkei zur EU wird die Mehrheit der europäischen Länder, wird vor allem auch Frau Merkel nach wie vor ablehnen – was spätestens nach Bewältigung der Krise ruchbar wird.