Ukraine: Man kann es auch so sehen

https://www.stoerfall-zukunft.de/10-juli-2021-hallo-freunde-hier-wieder-die-aktuellen-schlagzeilen-aus-dem-bloghaus/Anfang Februar wurde mir ein Text zugespielt, den ich nicht einfach ignorieren sollte – nur, weil er aus dem westlichen Lager kam. Er stammt von Timothy Snyder, einem Yale-Professor, der ein halbes Dutzend Bücher über Russland und die Ukraine verfasst hat:

Snyder sieht die derzeitige UkraineKrise  in wesentliche Teilen völlig anders als ich. In einem kürzlich erschienenen Beitrag für The Washington Post zieht er eine eher plakative Bilanz zur Entwicklung beider Staaten*. In typischer US-Manier ** kritisiert er die Politik der einstigen Sowjetunion – hier und da treffend, meist aber unausgewogen. Die Sowjetunion, aber auch das postkommunistische Russland sind durchgängig negativ besetzt. Die Befreiung vom Hitlerfaschismus wird kurzerhand mit der kommunistischen Herrschaft nach dem zweiten Weltkrieg verrechnet. Der große Vaterländische Krieg, der allein der Sowjetunion über 20 Millionen Tote und unübersehbare materielle Schäden „bescherte“ https://www.stoerfall-zukunft.de/10-juli-2021-hallo-freunde-hier-wieder-die-aktuellen-schlagzeilen-aus-dem-bloghaus/ ist lediglich einen  Satz wert.  Richtig ist, dass auch die Ukrainer (vor allem die Juden) im 2. Weltkrieg sehr gelitten haben – freilich mit der Hypothek, auch Gehilfen der Nazis gewesen zu sein https://de.wikipedia.org/wiki/Babyn_Jar (dieser Teil der Geschichte wird von Snyder ausgeblendet).

Der Autor moniert, dass Putin der Ukraine – als einem „gescheiterten BruderStaat“ – Hilfe angeboten, und sich dabei auf tausend Jahre gemeinsamer Geschichte berufen habe (Snyder: das sei Imperialismus!***). Snyder mutmaßt, dass Putins Angebot nicht auf gleicher Augenhöhe, sondern vom Sieger in Richtung des „Vasallen“ unterbreitet wurde. Weil „Putins Deutung der Sachlage“ angeblich die Souveränität der Ukraine bedrohte. Ob etwas dran ist an dieser Mutmaßung, ob Putin die Ukraine „in alter Freundschaft“ überreden wollte, ein verbündeter kleiner, vielleicht auch neutraler (Puffer-)Partner zu werden, sei dahingestellt. Snyder weiß das auch nicht und deutet alles auf böse.  Was die Ausdehnung der Nato entlang der russischen Grenze betrifft, so stellt Snyder zweierlei Dinge fest: 1) dass es 1990 in den Gesprächen zur deutschen Widervereinigung lediglich um die Ausdehnung der Nato auf DDR-Gebiet und keinesfalls um Verzichtserklärungen – die westlichen Nachbarstaaten Russlands betreffend – ging (das ist offenbar richtig und vom teilnehmenden Gorbatschow bestätigt https://www.tagesschau.de/faktenfinder/nato-erweiterung-mittel-ost-europa-101.html)**** 2) dass sich alle Teilnehmer der NATO-Russland-Grundakte von 1997 über eine Expansion der NATO im Klaren waren (NATO would expand …) und dass die NATO für alle entstehenden europäischen Demokratien offen stünde (die Grundakte enthält hierzu kein Wort!). Snyder interpretiert: Pech gehabt, ihr Russen seid selbst Schuld, dass die Osteuropäer in die NATO wollten. Die Ukraine habe sich zunächst schwer getan und sei erst nach dem Aufstand der Donezker und Luhansker auf diese Idee gekommen. Inzwischen wünsche die überwiegende Mehrheit der Ukrainer den Beitritt zur NATO (Mützenich vor einer Woche: die Hälfte der Ukrainer; Ishchenko in der Berliner Zeitung vom 30. Januar: 40%).

Tatsächlich ist die Ukraine ein von Oligarchen regiertes, von Korruption durchseuchtes Land, das wirtschaftlich voll am Boden liegt und nach Vertreibung des gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch zum Spiel- und Störball des Westens wurde. Eines vermeintlichen Partners, der Dollar und militärische Ausrüstung (an die Herrschenden) ausreichte/ausreicht – zur Gesundung des Staatswesens aber nichts beitrug/beiträgt. Snyder behauptet, dass die Russen (17,5% der Bevölkerung) in der Ukraine keinerlei Nachteile, geschweige denn eine Diskriminierung erfahren würden. Auch ein fataler Irrtum, den der Amerikaner längst hätte erkennen müssen – wenn er denn gewollt … Jeder einigermaßen Belesene weiß inzwischen, dass alle Bereiche, für die die russische Sprache wichtig ist, aber auch die Sprache selbst seit 2012 per Gesetz  stranguliert werden https://krass-und-konkret.de/politik-wirtschaft/ukraine-kampf-gegen-die-russische-sprache/  sowie https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ukraine-neues-sprachgesetz-soll-das-russische-zurueckdraengen-17736397.html. Nichts deutet derzeit darauf hin, dass die ukrainische Regierung die Minderheitenrechte der Russen im Lande schützen wird, und niemand muss glauben, dass der Westen, der ständig den Schutz von Minderheiten z. B. in China anmahnt, eine Hand für die unter Druck stehenden Russen rührt.

Grundsätzlich möchte ich dem Timothy Snyder J. Adam Tooze (ehemals Yale-Professor, später an der Columbia Universität, New York) entgegenstellen. Letzterer hat die Lage in der Ukraine sehr viel deutlicher beschrieben https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/die-wochenendausgabe-der-berliner-zeitung-vom-29-januar-2022-li.208771?pid=true

*“Putin’s case for invading Ukraine rest on phony grievances an ancient myths“

** antikommunistisch, antirussisch oder sonst wie bösartig

*** Snyder sollte mal Barbara Tuchmanns „der stolze Turm“ oder die „Die Torheit der Regierenden“ lesen. Imperialismus ist, wenn die USA Hawaii akkupieren (1893), die Philippinen zerquetschen (1899), Vietnam mit Agent Orange überziehen, Chile unterminieren, Kuba in die Blockade zwingen, den Irak überfallen, afghanische Zivilisten töten und und und …

****Daniela Dahn spricht unverändert davon, dass US-Außenminister Baker Gorbatschow gegenüber versprochen habe, dass sich die NATO nicht einen Zentimeter ostwärts bewegen würde (der Freitag, 10. Februar 2022, S. 1)