Deutschland liegt abgeschlagen zurück

Ich habe die Maßnahmen der Regierung in den zurückliegenden Monaten vorwiegend gebilligt und diejenigen zurückgewiesen, die immer nur auf den Verantwortlichen herumprügelten – ohne selbst etwas ausrichten zu können. Mittlerweile dreht sich meine Auffassung. Denn sowohl die Malaisen mit den Impfstoffen als auch die mit den Tests sind haarsträubend. Wir liegen, was die Impferei angeht (Geimpfte pro hundert Einwohner) weltweit auf dem 32. Platz, mit den Tests in Europa auf Platz 22. Solche Positionen sind untragbar. Sie zeugen davon, dass in Deutschland föderative Quatscherei, Nachgibigkeit, Unschlüssigkeit, Unfähigkeit, Ignoranz und Dummheit das Treiben bestimmen https://www.zeit.de/2021/10/foederalismus-bund-laender-corona-verantwortung-ministerpraesient. Verordnungen werden – weil alles in untauglichen Kompromissen siedelt – nur zögerlich, in der Regel zu spät und nicht tiefgreifend genug verabschiedet und Verstöße gegen sie nur unzureichend geahndet. Ein Großteil der Medien trägt dabei weniger zur Information als zur Hysterei bei, weil epidemieologische Fakten fälschlich verkürzt und medizinisch-soziale Abwägungen des Kicks wegen in Frage gestellt oder falsch gedeutet werden. Es fehlt hier zu Lande an Geschlossenheit, an wasserdichten Kriterien für Lockdown- und Öffnungsszenarien (gute Vorschläge gibt es, aber man ignoriert sie, weil man nicht selbst drauf kam, oder einfach aus Arroganz). Man hat sowohl die Sequenzierung der VirusVarianten (Vorbild: Großbritannien) als auch aussagefähige KohortenStudien mit Zufallsstichproben (mit ihrer Hilfe wäre man der Dunkelziffer auf die Schliche gekommen) verschlafen https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/corona-studien-101.html. Beides hätte die Beurteilbarkeit des Infektionsgeschehens signifikant verbessert.

Auch nach zwölf Monaten – so viele Stimmen aus dem Off – sei man nicht in der Lage, die Priorotäten zu erkennen und konsequent zu handeln. Und von anderen Ländern lernen will man auch nicht. Man habe weder den strengen Lockdown der Israelis, Österreicher, Italiener, Briten, Franzosen etc., noch das temporeiche Impfen und Testen (Israel, USA etc.) zustande gebracht. Und sich – was den Schutz der Alten und Kranken anbelangt – den Interessen von privaten Trägern und deren Personal gebeugt (Stichwort: CARITAS). Hinzu komme der Druck aus der Öffentlichkeit, dem man ebenso wenig gewachsen sei wie den Erpressungen aus der Wirtschaft. Man habe in keiner Phase der Epidemie kurz und hart genug reagiert, Widerständler mit Samthandschuhen angefasst und die Polizei ausgebremst – und sei so bei fast 71.000 Toten in Deutschland gelandet – eine Schande.

Diese Kritik verschlägt mich nicht ins Lager von Querdenkern, Impfgegnern oder Verschwörungstheoretikern, denn alles, was mit der Seuchenprävention zu tun hat – Masken, Handhygiene, Abstandregeln etc. – halte ich nach wie vor für unverzichtbar.  Die Kritik soll vielmehr  deutlich machen, dass unserem System Grenzen gesetzt sind, dass große Koalitionen aus Regierung und Länderministerpräsidenten kaum zielführend, dafür aber zeitraubend sind und dass sowohl die Forderung nach schrankenlosen Persönlichkeitsrechten wie auch die nach bloßer Folgsamkeit gefährlich sind. Vor allem dann, wenn demokratisches Gebahren, ein falscher Freiheitsbegriff und Bürokratie brutal aufeinanderschlagen. Zu glauben, dass es eine anders gestrickte Regierung besser gepackt hätte, dass ein von den Medien gehypter Sascha Lobo in Regierungsverantwortung die Dinge sachgerechter und schneller erledigt hätte, ist närrisch.

In einer Demokratie wie der unseren war richtiges Tun in Sachen Corona schier unmöglich. Oder soll man glauben, dass die Regierenden komplett von Idioten umgeben waren? Hier wurde einfach nur dem kleinsten gemeinsamen Nenner (aus der Konfrontation: Epidemieologe gegen Epidemieologe, Epidemieologe gegen Virologe, Virologe gegen Sozialwissenschaftler und allesamt gegen Politiker usw. usw.) gehorcht und die  wissenschaftlich fundierte und sachlich abgewogene Empfehlung weggedrückt.  Die Aufzählung der verpassten und falschen Entscheidungen – das, was Sascha Lobo im SPIEGEL versucht hat https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/corona-staatsversagen-in-der-pandemie-saetze-zum-ausflippen-kolumne-a-7f9519ca-1994-48c5-81eb-607efce16cf5 – ist richtig – aber kein Wunderwerk. Etwas, dass jeder denkende Mensch ebenso zusammenbringt. Aus dem In- und Miteinander der Dinge, aus den komplexen Zusammenhängen heraus die richtigen Maßnahmen zu erkennen und umzusetzen, erfordert dann auch Fähigkeiten auf ganz anderer Ebene. Denn die Widerstände, die sich in der Demokratie, im föderalen System bei jeder ins Auge gefassten Handhabung auftun, sind zahllos und im Vorhinein kaum abzuchecken. Zu überraschend reagiert der gefragte Bürger, zu schrill brüllt die nirgendwo passfähige Software, zu brutal reagiert der KAP auf staatliche Eingriffe. Letztlich zerstört egoistisches, neoliberales Denken den Altruismus, wo immer er auftaucht. Impfstoff- und TesteHersteller sind nicht nur Retter, sie sind auch profitorientierte Player – Player, die sich kostbar machen, patentrechtlich bedeckt halten und selbst dann noch raffen, wenn ihnen großzügige Staatshilfe zukommt. Nur akute Notstände, gepaart mit einer harten staatliche Führung können die Spielregeln in Grenzen verändern (ich bin überzeugt davon, dass es in Großbritannien angesichts der VirusMutation eine geheime Übereinkunft zwischen Staat und Astrazena gegeben hat).

Wie auch immer. Die Kritiker sind fast ausnahmlos Schreiberlinge ohne Wirkungsmacht. Sie vergessen, in welchem System wir leben. Vielfach bemängeln sie, dass die Politiker vor einem Jahr nicht zielgerichteter im Nebel gestochert haben und schöpfen dabei aus Erkenntnissen, die ihnen, den Kritikern, gerade erst auf den Tisch kommen. Auch in den USA und in Israel, in Ländern, die uns jetzt beim Testen und Impfen meilenweit überholen, gab es immense Anlaufschwierigkeiten, kritische Infektionsphasen und letztendlich … sehr viele Tote.

Bei aller Misere. In einem sind sich die liberalen Demokratien einig. Wenn sie es schon nicht so richten können, wie es sein sollte, müssen sie den schwarzen Peter den Diktaturen zuschieben. Was in Sachen Corona alles andere als überzeugend wirkt. Immerhin hat eine Mehrheit der in der UNO vertretenen Länder längst auf die Wirkstoffe der Chinesen und Russen gesetzt (dazu gibt es naturgemäß keine oder nur wenige Informationen) – und die lästige Diskussion ums Gesellschaftssystem aus den Köpfen verbannt. Wer heute, wie die Rheinische Post, mit Schimpftiraden auf China  losgeht https://rp-online.de/panorama/wissen/wissensdrang/wert-der-freiheit-in-der-pandemie-das-oeffentliche-glueck-und-seine-feinde_aid-56550689 und den Preis für Leben – nämlich die Einschränkung der persönlichen Freiheit – als zu hoch bezeichnet, repräsentiert für mich allenfalls Verkommenheit (sorry, das mag zu kategorisch klingen, aber …). Immerhin kann man annehmen, dass im Reich der Mitte (1,3 Milliarden Einwohner!) Hunderttausende, ja vielleicht Millionen Menschen vor dem Tod bewahrt wurden, Menschen, die jetzt auf übliche Weise weiter leben müssen – ooch ja… leider!