Wieder mal zu kurz gegriffen

Journalisten fordern ein neues, faires Europa – ohne die Chancen dafür strikt auszuloten
Migranten aller Art – auch Wirtschaftsflüchtlinge – sollten in absehbarer Zukunft am Wohlstand des Westens teilhaben
Ich behaupte: Beide Konstrukte sind ohne den Wirt gemacht.

 
Ich will es kurz machen, denn fast jedes Medium tummelt sich heute in diesem Thema, jeder beklagt, dass Europa kaputt ist. Alles ist lang und breit durchdiskutiert. Jetzt lohnt es allenfalls, über die Zukunft des Kontinents nachzudenken. Ulrike Guerot und Robert Menasse gehören zu denen, die sich hierzu stark ausbreiten. Erstere ist der Meinung, dass man Europa nach dem jetzigen Absturz neu aufbauen müsse. Sie fordert ein nachnationales Europa, eine politische Union, in der alle Bürger gleich sind, in der Außenpolitik, Wirtschaft und Sozialstandards aneinander angepasst, resp. im Sinne der Bürger aufeinander eingestellt und abgestimmt sind.
Ein solches Ziel entspräche genau meinen Vorstellungen, dürfte aber angesichts der in fast allen Ländern offen oder versteckt zu Tage getretenen Egoismen ein fragiles Zukunftsmärchen bleiben. Denn auch deutsche Politiker, die sich heute in einer beklatschten Flüchtlingspolitik sonnen, hatten mit Europa vor allem eines im Sinn: Sie wollten wirtschaftliche Vorteile generieren und den clever konstruierten Binnenmarkt gegen andere, schwächere Partner ausreizen. Ich habe ernste Zweifel, dass sich auf unserem Kontinent genügend vernunftgesteuerte Politiker finden, die mächtig genug sind, ein neues, fair konstruiertes, fair agierendes Europa zu bauen. Gingen unsere Exportüberschüsse verloren, müssten wir uns an Absprachen zur Inflationsrate halten, wo blieben dann die Wettbewerbsvorteile deutscher Konzerne. Keine Frage: Alle diejenigen, die mit einem neuen Europa ihrer Vorteile verlustig gingen, würden sich mit aller Gewalt gegen Veränderungen stemmen. Und so, wie es nicht gelingt, die ausbeuterischen europäischen, US-amerikanischen und israelischen Konzerne zur Wiedergutmachung an Afrika zu zwingen, dürften auch innereuropäische Reglementierungen fehllaufen. Denn die an der Macht befindlichen Politiker sind nun mal die Marionetten von Wirtschaft und Finanzwelt.

Auf einen wichtigen Punkt im oben kommentierten Papier möchte ich gesondert zurückkommen. Ulrike Guerot kommt nicht nur mit einer eher illusionären Europa-Vision, sie will uns auch glauben machen, dass das Flüchtlingsproblem auf moderate Weise, sprich: mit einer Teilhabe der armen (hier der Afrikaner) am westlichen Reichtum „zu erledigen“ wäre. Sie sieht dabei voraus, dass die scharfe Trennung zwischen dem Recht auf Asyl und dem Recht auf Migration aus wirtschaftlichen Gründen auf Dauer nicht zu halten sei. Und dass man sich in Europa auf die große Lösung für alle vorbereiten müsse. So jedenfalls mein Eindruck, meine Interpretation ihrer Worte.
Ja, kann man bei diesem Zukunftsentwurf den eigenen Augen und Ohren trauen, befinden wir uns wieder einmal in der Fortsetzung des unsäglichen, kritiklosen Multi-Kulti-Gedöns von gestern? Wer glaubt, dass Europa alle in den nächsten fünfzig Jahren auf den Kontinent drängenden Afrikaner an westlichem Reichtum beteiligen kann, ist doch wohl jenseits jeder Realität. Oder ist nicht bekannt, um wieviel potentielle Gäste es dabei geht? Um sehr, sehr viel mehr als hundert Millionen. Wollen wir allen, denen es sehr viel schlechter, viel schlechter, schlechter geht als uns Obdach und Zuwendung gewähren?
Sehr viel ehrlicher wäre es doch zu fragen, wie der in den zurückliegenden hundertfünfzig Jahren in Afrika entstandene Schaden durch die Verursacher kompensiert werden könnte, und welche Verantwortung unsere Politik, ja selbst jeder im Wohlstand befindliche Bürger übernehmen müsste, um einen „Prozess der Wiedergutmachung“ – und damit der wirtschaftlichen Konsolidierung Afrikas – in Gang zu bringen. Ich habe diese Frage oben bereits angeschnitten und meine Zweifel an einer solchen Lösung des Problems ausgedrückt. Warum also spreche ich das erneut an? Vor allem deshalb, weil ich in der Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort die einzige reale Chance zur Lösung des Flüchtlingsproblems sehe – in Afrika ebenso wie im Mittleren Osten. Einer gesicherten Teilhabe der millionenhaft nach Europa (ja, eigentlich nach Deutschland) eingewanderten Migranten das Wort zu reden, ist nicht nur dumm, sondern überaus gefährlich. Denn schon jetzt ist absehbar, dass das Gros der Einwanderer neben den jetzt schon sieben Millionen deutschen Hartz-IVern im sozialen Netz stranden und dieses so überbeanspruchen, dass sein Zerreißen droht. Was wir brauchen sind konkrete materielle Hilfen zur Selbsthilfe, Bildungsangebote und Wissensvermittlung, den kostenfreien, durch Entwicklungshilfe finanzierten Zugang zu westlichem Know-how, das Verbot von Lebensmittelexporten nach Afrika, das Verbot von Spekulation auf Nahrungsmittel sowie Aufklärung und nochmals Aufklärung. Darüber hinaus müssen die Europäer darauf dringen, dass sich auch die USA, Israel und andere Länder, deren Konzerne in Afrika Raubbau getrieben, deren Politiker für die Krise in Mittelost maßgeblich verantwortlich sind, ihren Beitrag zur Lösung des Flüchtlingsproblems leisten. Auch hier ist massiver Widerstand zu erwarten. Donald Trump hat das einmal mehr dokumentiert. Dennoch: Wenn wir Europäer – so wir denn welche werden wollen – diese Dinge nicht konsequent anpacken, geschieht Furchtbares. Wir werden Jahr für Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen müssen – solange, bis die AfD in Deutschland, der Front national in Frankreich, extreme rechte Parteien in Ungarn, Polen etc. die Regierungen stellen. Hinzukommt, dass sich die wirtschaftliche Lage Europas mit dem Aufkommen von China, Indien, Brasilen etc. sukzessive verschlechtern dürfte. Schon jetzt sind die Grundstoff-Industrien in Deutschland (die Branchen Stahl und Chemie) akut gefährdet. Ähnliches gilt für den Mittelstand, der z. B. in Sachen Digitalisierung längst den Anschluss an führende Firmen z.B. in den USA und China verloren hat. Sollte Deutschland, sollte Europa mehr als die bisher prognostizierten Anteile am Weltmarkt verlieren, dann fehlt sogar für die Selbsterhaltung die notwendige Substanz. An die Partizipation von Kriegsflüchtlinge, geschwige denn an die von Wirtschaftsflüchtlingen wäre dan überhaupt nicht zu denken. Der vermutlich gutwilligen Frau Guerot kann ich daher nur empfehlen, den Blick etwas weiter schweifen zu lassen, die Folgen künftiger wirtschaftlicher Konstellationen und Belastbarkeiten zu berücksichtigen und naive Menschenrechteleien außen vor zu lassen.
Im Übrigen bin ich ganz auf der Seite von Sarah Wagenknecht, die jetzt auch von Teilen der Linken ausgepeitscht wird – nur weil sie vom „Gastrecht für Flüchtlinge“ spricht. Und natürlich etwas mehr Grips in der Birne hat als die emotional aufgeheizten Möchtegern-Philosophen, die von Ökonomie keine Ahnung haben. Jawohl: Es geht um ein Gastrecht. Und jawohl: die Flüchtlinge müssen – sobald der Krieg in Mittelost endet, sobald der Not in Afrika ein Riegel vorgeschoben ist – in ihre Heimatländer zurückgeführt werden, um dort (mit westlicher Hilfe) den Wiederaufbau zu betreiben. Und jawohl: Es besteht ein Widerspruch zwischen unserer Forderung nach schnellstmöglicher Integration und dieser Rückführung. Denn wozu integrieren, wenn man bald wieder zurück muss? Ich meine, die fluchtauslösenden Probleme werden weder heute, noch morgen oder übermorgen gelöst. Irgendwann aber müssen sie gelöst werden. Und bis dahin ist Integration angesagt – schon im Hinblick auf die mögliche Bildung und Ausbildung. Die ja dringend benötigt wird – beim Wiederaufbau im Herkunftsland.

Bildausschnitt aus „der Freitag“ 9/16  vom 3. März 2016