20 Jahre deutsche Zwei-Heit

Es ist wahrlich kein Wunder, dass heute – zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung – das Gros der Westdeutschen dieses Ereignis befeiert, während Zehn-, ja vielleicht Hunderttausende im Ostteil unseres Landes hinter die Mauer zurück wollen. Der Rest mag realistischer denken und die deutsche Einheit als Mix von punktuellem Erfolg und massenhafter Bauchlandung empfinden – für die Ostdeutschen wohlgemerkt.
„War nicht besser möglich“, höre ich dann, „keine Erfahrungen mit der Transformation und … die sollten sich freuen … bei den Wahnsinns-Transferzahlungen. Nun, die reichlich 1 Billion Euro für den Aufbau Ost haben alle erbracht – auch die Ossis. In den Genuss des Geldsegens indes kamen vor allem Konzerne – eben die, die die neue Struktur östlich der Elbe gestalteten/verunstalteten. Für den Bürger selbst ist manche „Errungenschaft“ zweitrangig – ganz gleich, ob sie der öffentlichen Hand oder der Privatwirtschaft entsprang. Die extreme Radfahrweg-Dichte, überdimensionierte Erlebnisbäder und Kläranlagen, ja selbst die hochwertigsten Straßen der Welt werden mit Kopfschütteln quittiert, wenn man die Existenz- und Lebensbedingungen der Wendeverlierer dagegen hält. Und die Konsumpaläste geben nur denen etwas, die darin nicht traumtänzeln, sondern auch kaufen können. Hier aber klemmt es, seit der Osten den Großteil seiner Betriebe und Einrichtungen in der Landwirtschaft verloren hat. Auch nach zwanzig Jahren ist die Arbeitslosigkeit im Osten doppelt so hoch wie im Westen und zahllose Jobs werden noch immer schlechter bezahlt als im „Kernland“.
„Pech gehabt“, tönen die Gazetten. Die DDR-Mädels und -Jungs haben zwar 735 Milliarden Ostmark Reparationen an die Sowjets gezahlt (der BRD blieben solche Opfer – die Israelhilfe ausgenommen – erspart) und mäßig bis tapfer im Käfig geackert. Dass ihnen heute dennoch das Stigma des Mittelmäßigen, des Maroden oder kurz gesagt: der Verlierer anhaftet, sei hausgemacht. Wo alles nur knapp war, blieb wenig zum Wundern. Schließlich habe man dem Einigungsvertrag mit der „Anschluss-Klausel“ zugestimmt. Ob da ein Lothar de Maiziere um die Würde des Osten rang, ein Schäuble seine Mitspieler süffisant übertölpelte oder ein Krause alles zur Flotte gab („DIE ZEIT“, 30. September 2010), tue hier nichts zur Sache. Man habe sich in die westdeutsche Verfassung/in das westdeutsche Grundgesetz einzugewöhnen, und damit … basta!
Genau hier begannen die Desinformationskampagnen, die unliebsame Wahrheiten mit permanenten Debatten über Unrechtsstaat, Stasi, Mauer und Wirtschaftschaos zu löschen suchten. Natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat – wenn man die Gesetze und das Rechtsverständnis der Bundesrepublik West zu Grunde legt. Und natürlich liegt es mir fern, die Machenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) durch Kritik an westlichen Geheimdiensten zu relativieren. Menschenverachtung und Menschenrechtsverletzungen bleiben was sie sind – ganz gleich, auf welchem Nährboden sie gedeihen.
Ganz sicher konnten die Wirtschafts-„Strategien“ des Ostens denen des Westens nicht Paroli bieten. Was nicht heißt, dass alles, was die Ex-DDR hervorbrachte, Murx war und dem Schlendrian anheimfiel. Wenn ich Bekannten hier im Westen erzähle, dass es z. B. für die ostdeutsche Stahlindustrie über dreißig so genannte Kompensationsvorhaben (Barter-Geschäfte) gab, sind sie erstaunt. Vor allem darüber, dass die im Westen gekaufte Technik höchstes Niveau hatte und mit Produkten aus den zugehörigen Anlagen bezahlt wurde. Aber nicht nur diese Stahlwerke, Walzwerke und Bandbehandlungsanlagen repräsentierten Hightech. Auch die aus dem Westen importierten Werkzeugmaschinen in Europas größtem (!) Fertigungsbetrieb „Fritz Heckert“, Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), die Ausrüstungen in der Möbelindustrie (z. B. Zeulenroda), in der Lebensmittelbranche etc. mussten den Vergleich mit westeuropäischen Produktionsstätten nicht scheuen. Bei Computern freilich konnte die DDR (Robotron) nicht mithalten. Die wurden aus dem Westen importiert, entsprachen aber nicht dem neuesten 16-bit-Standard (Embargo). Ich erinnere mich noch: Im Frühjahr 1987 war das Entree des Ministeriums für Erzbergbau, Metallurgie und Kali bis zur Decke mit westlichen Commodore-PCs zugestellt. Der „embargo-gestörte Rest“ wurde irgendwann „privat“ dazu gekauft. So dauerte es nur ein paar Monate, bis ein über Ost-Berlin hinaus reichendes, komplexes Rechnernetz existierte, das die Zentrale mit wichtigen Fertigungsbetrieben verband. Wichtigstes Ergebnis: Ein EDV-Embargo des Westens – diese Netze betreffend – war durchbrochen. Auch, weil die Spionage funktionierte und „geschäftstüchtige“ westliche Verkäufer ihren Reibach machen wollten.
Nun, am Ende des Endes hatte die DDR 20 Milliarden DM Schulden – eine Summe, die groß scheint, aber heute und in anderen Ländern wie Peanuts anmutet. Gleichwie, die Machthaber knickten, knickten ein oder wurden geknickt. Für mich sah das – bei allem Protest, bei allen Montags-Demos, bei aller Neutralität der Sowjettruppen – wie eine Übergabe aus. Längst geplant und dann umgesetzt – ohne dass ein Schuss fiel (!!!). Westliche Politik und Medien sind diesem Phänomen nie wirklich nachgegangen – obwohl ihnen die Mittel dafür sicher zur Verfügung standen/stehen. Ganz so als gäbe es Absprachen, die bis irgendwann geheim bleiben müssten.
Umso intensiver bemühten sich die westlichen Medien, die dominierenden technischen Dinosaurier abzulichten und den DDR-Bürger als Wesen von gestern, als faul und dumm ins Bewusstsein der Westbürger einzupflanzen. Ein Vorgehen mit Kalkül – denn wo man etwas als unmodern und hinterwäldlerisch stigmatisieren konnte, war es leicht, einfach abzuräumen. Und so schliff man mit Bedacht vor allem das, was zum Wettbewerb fähig schien. Die betroffenen Ostdeutschen waren schockiert. Es tat ihnen weh, auch Hochwertiges in den Schrottpressen verschwinden zu sehen. Aber letztlich mussten sie akzeptieren und hinnehmen.
So die Botschaft an diejenigen, die den Osten bis heute nicht besucht haben, aber trefflich über ihn Bescheid wissen.
In den Köpfen der Vereinigungsgewinner, aber auch vor Ort gab es die wahren Bilder. Hier wurde kurz nach dem Mauerfall ein blutiges Spiel in Gang gesetzt, das nur einen Gedanken zuließ. Nämlich den, die zulaufende Substanz optimal, sprich: zum maximalen Nutzen des Westens auszubeuten. Zwar musste den Ossis zumindest der Schein einer künftigen würdevollen Existenz vermittelt werden, doch dafür sollte und musste der Staat, sprich: der Steuerbürger herhalten. Vorrang hatte zweifellos der Aufbau einer neuen Finanz- und Wirtschaftsstruktur – mit veränderten Besitz- und Machtverhältnissen. Ursprünglich – kurz nach dem Mauerfall – hatte alles noch ganz anders ausgesehen. Die Teilnehmer des Runden Tisches – allen voran Wolfgang Ullmann – hatten dem zerrissenen Land einen „Dritten Weg“ jenseits der Plan- und Marktwirtschaft in Aussicht gestellt. Dabei sollte den Bürgern der ehemaligen DDR ein möglichst großer Anteil am ehemaligen Volkseigentum übereignet werden (http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/11/Beilage/006.html)
Zur Regelung aller sich verändernden Vermögensverhältnisse hatte Hans Modrow, vorletzter Ministerpräsident der DDR, die Order erteilt, eine Treuhandanstalt zu schaffen. Das Schicksal wollte es allerdings, dass Modrow die kommende Wahl verlor. Ihm folgte der CDU-Mann Lothar de Maizière, der auf Druck westdeutscher Politiker all das umwarf und eine neue Devise herausgab: privatisieren und sanieren – wo eben sinnvoll und liquidieren, wo aussichtslos. Wer „sinnvoll“ und „aussichtslos“ definierte und schließlich in die Listen sortierte, dürfte heute klar sein.
Auch an der zweiten „Front“ zeigten die Mächtigen plötzlich, wo der Hammer hing. Sie führten die D-Mark ein. Und das überaus geschickt. Denn die neue Währung kam als großzügiges 1 (DM): 2 (Ost-Mark)-Geschenk, als Gabe, die der „Ossi“ ja quasi erfleht hatte. In Wirklichkeit ging es darum, die Wirtschaft der DDR, sprich: die Konkurrenz der volkseigenen Betriebe kurz und knapp auszuschalten. Hierzu mussten die Unternehmen – wo immer möglich – geschwächt, Kundenstämme/Absatzdaten ehemaliger DDR-Betriebe vereinnahmt und neue Vertriebswege erschlossen werden. Noch heute versuchen uns westdeutsche Politiker einzureden, dass man keinerlei Erfahrungen gehabt habe – was den bevorstehenden Transformationsprozess betraf und dass folglich auch einiges beim Anschluss der Ex-DDR schief gelaufen sei. Gewiss: ein Vorbild für dieses Geschehen gab es nicht. Wohl aber Betriebswirtschaftler, die sich ausmalen konnten, was geschehen würde. Denn wer praktisch von einem Tag zum anderen im Geltungsbereich der Ex-DDR die D-Mark einführt, muss wissen, welche Folgen das hat. Und seien wir ehrlich: Die Abwickler wussten nicht nur, was folgen würde. Sie legten es geradezu darauf an. Nach dem Crash würde alles DDRische wachsweich zusammenbrechen und marode, zerbrochen, filettiert dem westlichen Wettbewerb zuwachsen.
Den entlassenen DDR-Bürgern stieß damals nichts auf. Sie waren mit dem Umtauschsatz von zwei Ostmark gegen eine Westmark ruhig gestellt. Sie eilten in die Konsumtempel und kauften, was das Zeig hielt. Parallel dazu aber verloren fast sämtliche Exportbetriebe der ehemaligen DDR ihre Existenzgrundlage. Der Effekt war beispiellos – und natürlich einkalkuliert. Spätestens mit der Einführung des neuen Ossi-Rentensystems wurden nicht nur die Gelder sondern auch die Seelen und Kräfteverhältnisse geordnet. Vielleicht verbarg sich gerade hier – im Immateriellen – der eigentliche Clou. Immerhin hatten es die westdeutschen „Vereinigungsstrategen“ glänzend verstanden, die Truppe der Ex-DDRler zu spalten – in Begeisterte und Bedrohte. Und so eine geschlossene Front von Meckerern/Aufrührern verhindert. Diejenigen nämlich, die sich nach dem vorteilhaften 1:2-Tausch in die Konsumtempel verdrückten, waren zufrieden und je nach Rücklage mittel- oder langfristig ruhig gestellt. Ebenso die Rentner. Ihnen hatte man – die „staatsnahen Würdenträger“ der Ex-DDR ausgenommen – gleichfalls eine vorteilhafte Lösung angeboten. Bei meist zwei Renten pro Haushalt (die überwiegende Mehrheit der DDR-Frauen war berufstätig) kamen erkleckliche Summen zusammen, zuweilen solche, von denen westdeutsche Familien nur träumen konnten. Kurzum: Auch diese Bürger waren im Wesentlichen zufriedengestellt. Blieben die Menschen im Erwerbsalter, solche die noch Arbeit hatten, aber fürchteten, diese zu verlieren. Blieben Leute, die politisch wetterten und nostalgisch vor sich hinwucherten, blieben Leute, die nichts angespart hatten, nicht sonderlich gebildet oder schon entlassen waren. Sie letztlich stellten die Masse in den neuen Ländern, bestimmten ganz maßgeblich die Atmosphäre, wenngleich nicht gänzlich. Und gerade die Diskussion zwischen den Bevor- und Benachteiligten schien gewollt zu sein. Schluckte sich doch ein Teil des aggressiven Potenzials, das sich auftun musste.
Es waren vor allem die einsetzenden Pleiten, die für Unruhe sorgten. Für die meisten DDR-Betriebe nämlich brachen über Nacht die Absatzmärkte. Die nämlich lagen vornehmlich im Osten – dort, wo niemand Devisen hatte, um die plötzlich D-Mark- (sprich:Valuta-)trächtigen Warenlieferungen zu bezahlen. Exportierten Ex-DDR-Unternehmen in den Westen, war die Lage anders, aber keinesfalls besser. Der DKK Scharfenstein, vor der Wende, aber auch noch Monate danach ein gesuchter Lieferant für Motore und Kühlschränke, gilt als typisches Beispiel für diesen Würgeprozess. Der Betrieb, der zu Ostzeiten u. a. Quelle belieferte, wurde mit Einführung der D-Mark schlagartig in die Knie gezwungen. Weil dem bisherigen kläglichen Westmark-Erlös plötzlich sehr viel höhere Westmark-Kosten entgegenstanden. Auch der gemeinsam mit Greenpeace gestartete Versuch, den ersten FCKW-freien Kühlschrank der Welt zu vermarkten, schlug fehl. Weil konkurrierende Unternehmen das exzellente Produkt, für das es bereits 70.000 Vorbestellungen gab, schlecht redeten (die Lüge: das neue Kühlmittel sei brennbar und deshalb gefährlich) und die Händlernetze desorientierten. Später – nach dem Zusammenbruch von DKK – wurde das verfemte Gas problemlos bei anderen westlichen Kühlschrankherstellern eingesetzt (http://frontal21.zdf.de/ZDFde/inhalt/5/0,1872,8108613,00.html). Der zweite Hieb traf auch die Unternehmen, die ausschließlich fürs Inland produzierten. Sie mussten ihre Kredite und Zinsen ab sofort in Valuta abtragen – und das bei sofort einsetzendem Produktwettbewerb (Lieferungen aus dem Westen) und fehlender Wettbewerbsfähigkeit (meist unzureichende Produktivität). Hinzu kam der Wandel in den Führungsstrukturen (viele alte Kader raus! Aber wie?), der das Chaos perfekt machte. Die so weich gekochten, sprich: nicht mehr lebensfähigen Einheiten mussten – schon weil von Seiten der Belegschaften Aufstände drohten (Probleme bei der Lohnzahlung etc.) – schnellstens privatisiert, sprich: abgewickelt werden. Die hierfür gegründete Treuhandanstalt hat sich dieser Tätigkeit dann über viele Monate „gewidmet“. Wir wissen heute, dass Rohwedder und Breuel von westlichen Konzernen geradezu belagert wurden – und diesen fast alles auslieferten, was auf der Agenda stand: ca. 8.000 Betrieb an 32.000 Standorten. Ein Heer williger „Kollaborateure“ aus der Ex-DDR lieferte die begehrten Grundsatzdaten – und wo die Codes klemmten, wurden die Schränke aufgeschweißt.
Ich selbst kenne eine Reihe von Beispielen dafür, dass westdeutsche Konzerne alte DDR-Betriebe aufkauften, deren Kundenkarteien abgriffen, einzelne Bereiche oder aber das Ganze filettierten und die unbrauchbare Substanz aussonderten. Vielfach gingen ganze Betriebe den Bach runter, weil man sich einer möglichen unliebsamen Konkurrenz entledigen wollte. So hatte z. B. die Krupp AG das Kaltwalzwerk im brandenburgischen Oranienburg mit der Auflage erworben, dort 40 Millionen zu investieren und 600 Arbeitskräfte zu beschäftigen. Die Vereinbarung wurde vom Land Brandenburg mit einer Investitionsbeihilfe von 7 Millionen DM zusätzlich vergoldet. Krupp aber legte das Werk zugunsten seiner Dependance im Letmathe (NRW) flach und verkaufte − das Land an eine westdeutsche Warenhauskette, die hochwertigen Maschinen nach China. Geschätzter Erlös: 20 Millionen DM („Ostdeutscher Rundfunk: „Der Krupp-Deal“, 1996). Um die Rückführung der Investitionsbeihilfe hat Ministerpräsident Stolpe jahrelang ringen müssen. Keine Ahnung, ob das Geld inzwischen zurück ist.
Ähnlich sah es bei der Zerstückelung des Zentralen Industrieanlagenbaus der Metallurgie (ZIM), bei der Abwicklung des Möbelkombinats in Zeulenroda oder beim Verramschen des überaus lebensfähigen Heizkraftwerke-Herstellers WBB Berlin aus (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9202341.html). Den zuletzt genannten Betrieb kaufte ein gewisser Rottmann für 2 Millionen DM, um ihn später samt Immobilien für 147 Millionen D-Mark weiter zu versilbern. Das Handbuch „Vereinigungskriminalität“ verweist auf hunderte solcher Machenschaften, denen nur wenige Verhaftungen und Bußgeldzahlungen gegenüberstehen. Oft – so auch im Fall Rottmann – war das veruntreute Geld (200 Millionen DM) vor dem Urteilsspruch verschwunden. Wie auch immer: Mal waren es die Großen, dann wieder die Kleinen, die im „Wildwuchs Ost“ ihr (mit Verbrechen verquicktes) Glück versuchten, Fördermillionen kassierten, Versprechen machten und brachen, Menschen ins Unglück stürzten, die ihnen übertragene Substanz auf Brauchbares hin filettierten, Wertvolles verhökerten, unbrauchbare Reste auf großen Schrottplätzen zurückließen, sich anschließend aus dem Staub oder in den betrügerischen Konkurs machten. Natürlich kauften auch Firmen, die ihre Zusagen einhielten, investierten und Belegschaften – wenn auch dezimierte – am Leben erhielten. Und natürlich stehen sie für die Mehrheit der neuen Herren. Was nicht heißt, dass sie wenig profitierten – nur eben bedeutet, dass sie nach Recht und Gesetz agierten – nach dem bundesdeutschen. Schlussendlich war die Bilanz verheerend. Rohwedder hatte noch gemutmaßt, dass die Privatisierung der DDR dem deutschen Staat 600 Milliarden D-Mark einbringen würde. Heraus kam ein Verlust von 250 Milliarden D-Mark, den man in einen Sonderfond einbrachte, der bis heute nur zu einem Drittel vom Steuerzahler getilgt ist (http://frontal21.zdf.de/ZDFde/inhalt/5/0,1872,8108613,00.html). Bis heute rätsele ich an diesem Zahlenspiel. Aber sicher gilt wie immer: die Gewinne privatisieren, die Verluste sozialisieren.
Wenn wir uns jetzt – 20 Jahre nach der Wiedervereinigung fragen, warum die Ossis noch immer nicht in Deutschland angekommen sind, dann hat das vor allem die o. a. Ursachen. Das Gros der Leute wurde hingehalten, belogen, aus dem Job gefeuert, in zumeist sinnlosen ABM-Maßnahmen traktiert und mit „blühenden Landschaften“ dumm gestellt. Bis heute hat sich in den Neuen Bundesländern eine Reihe von industriellen Inseln etabliert, die maßgeblich produzieren, Arbeitskräfte beschäftigen und partiellen Wohlstand vermitteln. Interessant dabei ist, dass die auf diesen Inseln produzierenden Unternehmen vor allem verlängerte Werkbänke von im Westen sitzenden großen Unternehmen sind, nur geringfügiges Forschungspotential implizieren und fast ausschließlich von westdeutschen Geschäftsführern geleitet werden. Ein ARD-Nachrichtenmagazin hat das eindruckvoll mit Fakten belegt: Zwei Drittel der DDR-Bürger fühlen sich als Menschen zweiter Klasse; Ostdeutsche machen 18 % der deutschen Gesamtbevölkerung aus – in der gesamt deutschen Elite sind sie aber nur mit 7,5 % vertreten; mehr als 90% der Spitzenfunktionen in ostdeutschen Unternehmen werden von Westdeutschen wahrgenommen; von 54 Mitgliedern des Bundesverbandes der deutschen Industrie kommt gerade mal eines aus den Neuen Ländern; unter den 88 Hochschulrektoren Deutschlands stammen nur 3 aus der ehemaligen DDR; „Ost-Professoren“ haben im westlichen Teil Deutschlands keinerlei, im Osten Deutschland nur begrenzte Chancen, einen Job zu bekommen. Da Eliten dazu neigen, sich selbst zu reproduzieren – so schob das Magazin viel sagend nach – bliebe den Ossis die marginale Teilhabe vermutlich „noch lange Zeit erhalten“ (ARD/“Monitor“, 30. September 2010). Was Monitor nicht beleuchtete, ist die Tatsache, dass die Vermögenssituation der Ossis, aber auch die Eigenkapitaldeckung ostdeutscher Unternehmen teilweise katastrophal ist. Das ist weniger auf die kurze Nachwendezeit als darauf zurück zu führen, dass die Erfolgschancen radikal ausgedünnt wurden (s. o.) und auch heute noch verschwindend gering sind.
Viele bunte Gazetten, aber auch große Wochenzeitungen haben sich pausenlos mit den widerspenstigen Ossis beschäftigt. Ohne allerdings den Phänomenen wirklich auf den Grund zu kommen. Das unaufhörliche Jammern, der ungebremste Zulauf zur PDS (heute „DIE LINKE“) und dann die Undankbarkeit. All das liegt auch heute noch vielfach auf Halde.
Schon 2009 hatte Evelyn Finger versucht, die Ursachen für ostdeutsche Verstimmtheiten aufzuspüren. Ihre Analyse war – zumindest in Teilen – gut nachzuvollziehen. Wörtlich formulierte sie: „Das Falscheste, was man unter widrigen sozialen Bedingungen tun kann, ist die Propagierung der Freiheit als Slogan. Genau dies ist nach dem Mauerfall immer wieder geschehen. Der Übergang zur Demokratie ereignete sich für viele Ostdeutsche parallel zum sozialen Abstieg oder zumindest parallel zum Erwachen bisher unbekannter Abstiegsängste. Da vergaßen die Neubürger schnell die Willkür des vormundschaftlichen Staates. Da kam ihnen die Mauer plötzlich gar nicht mehr unerträglich vor. Natürlich konnten sich die neuen Arbeitslosen bessere Autos leisten als die alten Arbeiter (die Pfändung des zeitweiligen Besitzes fand später stand). Natürlich schafften viele den Sprung. Kein Wunder, dass berechtigte Klagen über zeitgleich auftretende Missstände im Namen der Freiheit abgeschmettert wurden. Das war dem Ansehen der Demokratie nicht förderlich. Doch wie diese eigentlich aussehen sollte/musste, wusste ohnehin kaum jemand. Wer die Massenentlassungen beklagte, wurde als Ewiggestriger beschimpft. Wer gegen Langzeitarbeitslosigkeit demonstrierte, galt als planwirtschaftsverliebter Stalinist. Die Krux der Wiedervereinigung war, dass vielen Ostdeutschen die Freiheit als Danaergeschenk erschien, denn sie ging mit Verlusten einher. Es gab Großbetriebe, in denen über 80% der Belegschaft ihre Jobs verloren. 1989 hatten 830.000 Menschen in der Landwirtschaft der DDR gearbeitet, zehn Jahre später waren es nur noch 135.000. Dass sie mit ansehen mussten, wie nicht nur marode Ställe, sondern auch nagelneue Saftfabriken für einen symbolischen Euro verhökert und Tausende Hektar Obstplantagen abgeholzt wurden, versetzte sie in hilflose Wut. Der Exodus verschiedener Wirtschaftsbereiche war eine besondere Ohnmachtserfahrung der Ostdeutschen, die ihnen den Mauerfall vergällte“ („DIE ZEIT“, 5. November 2009 – http://www.zeit.de/2009/46/Verpasste-Freiheit).
„Damals war’s so viel besser“ titelte eine große Wochenzeitung. Doch der Hammer, den die Schlagzeile suggeriert (Nostalgie und „Mauersehnsucht“), wird vom Autor schnell beiseite gelegt. Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums, Berlin, gibt sich sogar Mühe, den Lauf der Dinge verstehbar zu interpretieren. Seine Schilderungen des DDR-Lebens sind zutiefst kritisch, aber keineswegs eindimensional – wie man das aus anderen Medien seit langem gewohnt ist. Und Wolle versucht auch aufzudecken, warum die Ostdeutschen zu dem geworden sind, was sie heute sind, warum sie zuweilen jammern, statt sich aufzuraffen und das Dreckfressen fortzusetzen. Mindestens zweimal ist Wolle bemüht, verständlich zu machen, dass den Ossis Teile ihrer Biographie/ihres Lebenswertes, die Einbindung in die Gemeinschaft und ihr Wertesystem verloren gingen – ohne dass sich eine sofort nutzbare, erkennbar vorteilhafte und akzeptable Alternative geboten hätte („DIE ZEIT“, 23. September 2010). Die Ostdeutschen merkten nur, dass es – von den menschlichen Beziehungen her – kalt wurde in Deutschland. Das aber waren – wenn auch auf andere Weise – nur diejenigen gewohnt, die quer zum System standen. Bis heute weiß niemand einzuschätzen, wie weit Observation und Überwachung im Osten gingen. Westliche Medien erwecken bis heute den Eindruck, als ob ein jeder, ganz gleich, ob er Intellektueller, Arbeiter oder Bauer war, der permanenten Observierung und Denunziation ausgesetzt war – und unter Angstzuständen litt. Das dürfte – gelinde gesagt – Unsinn sein. Denn dort, wo der Staat nichts fürchten musste, musste er auch nicht schnüffeln. Ganz zu schweigen davon, dass die Totalüberwachung weder technisch noch personell machbar gewesen war. Der bis heute vom Westen verfolgte Ansatz, die Befindlichkeit von Dissidenten/Ausreisewilligen/politisch Verfolgten auf die DDR-Gesamtheit zu projizieren, ist gleichermaßen falsch wie politisch gewollt. Nur eine Schreckensherrschaft konnte den nachfolgenden Umgang mit den Beteiligten – ganz gleich, ob sie zu den Unterdrückern oder Unterdrückten gehörten – rechtfertigen.
So bemüht tiefgründig wie sich Stefan Wolle ins Zeug legte, so bieder populistisch geriet der Folgebeitrag. Eine Crew von 19 Journalisten, die offenbar einfallsreich/witzig sein wollte – schlug mehrheitlich platt auf. Unter dem Titel „Zwanzig Dinge, die wir bei der nächsten Wiedervereinigung besser machen“ wird leichtlustig vom Leder gezogen („DIE ZEIT“, 23. September 2010). So heißt es unter anderem: Plattenbauten gleich einreißen (um „die wunderbaren Altstädte besser auszulasten“); Bonn vergessen (nun klar!), dann aber auch die parallel zum „Ostglanz“ bröckelnden Fassaden im Westen beachten (Schutzbehauptung gegenüber den Wessis), die Währungen eins zu viereinhalb tauschen (angeblich, um die Überlebenschance von Ostbetrieben durch niedrigere Löhne zu verbessern – ein naiver Ansatz!), in die DDR-Schule gehen (kann nichts schaden!), Fortsetzung der SED verbieten (Ja wie denn … in der Demokratie?), Verfassung diskutieren (eine Illusion – ich zweifle daran, dass Sieger je mit sich reden lassen), ostdeutsches Eigentum in Osthand (närrische Eingebung angesichts der Machtfrage!), kein Export unbegabter Westkader in den Osten (eine Illusion in der freien Marktwirtschaft), LPG im Westen (ein interessanter Ansatz!), Dissidenten an die Macht (für wie dumm hält man uns eigentlich?), Entschädigung vor Rückgabe (ja!).
Schließlich hat auch Jana Hensel versucht, mit Vorurteilen aufzuräumen, sprich: den Widersprüchen/Verprellungen zwischen Ost und West beizukommen. Was sie feststellt, erklärt manches: „Betrachtet man die Berichterstattung über den Osten Deutschlands in den überregionalen Medien, lassen sich drei Muster feststellen: Sie erfolgt sprunghaft statt kontinuierlich, folgt einer häufig ausschließenden statt integrierenden Absicht und ist oft von Emotionalität, nicht aber von Sachkenntnis geprägt. Das liegt daran, dass es 20 Jahre nach der Einheit keine überregionalen ostdeutschen Medien gibt. Die Berichterstattung Ost steht damit vor der einseitigen Herausforderung, sich in die Berichterstattung West integrieren zu müssen […]. Fünf von sechs Mitgliedern der Geschäftsführung des Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) stammen aus Westdeutschland. Beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) sind sowohl der Intendant als auch die beiden Chefredakteure Westdeutsche […]. Kaum eine der Annahmen, unter denen die Einheit gedacht und vereinbart wurde, ist Realität geworden. Vielmehr lassen beinahe alle sozialen und wirtschaftspolitischen Zahlen die alten Grenzen wieder aufleben […]. Die Realität Ost lässt sich durch die Brille der Realität West weder denken noch begreifen […]. Jedes Thema kennt eine ostdeutsche Seite, braucht eine ostdeutsche Perspektive. Sei es die Situation am Arbeitsmarkt, seien es die daraus resultierenden Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Das Verhältnis zwischen den Generationen ist im Osten anders. Es gab wenige Erfahrungen, die die Älteren den Jüngeren nach 1989 weitergeben konnten. Der Blick auf die Historie ist anders. Die Erwartungen an die Aufgaben des Staates sind anders […]. Konfessionelle Bindungen sind rar, entsprechend verschieden sind die Werte.“ Abschließend meint Hensel, dass man die Einheit zwischen Ost und West nicht für den Preis des Wegschauens haben könne. Es sei die Aufgabe der Medien, vorhandene Unterschiede aufzuzeigen, sie kenntlich und verständlich zu machen („DIE ZEIT“, 23. September 2010 – http://www.zeit.de/2010/39/Osten-Medien). Wie wahr! Damit mag die Journalistin Recht haben. Konkrete Konzepte und ein entsprechendes Durchsetzungsvermögen gibt es deshalb noch lange nicht. Wie auch?
Der Ausflug in die deutsch-deutsche Situation ließe sich mühelos fortsetzen – wenngleich ein Mehr an substanziellen Erkenntnissen kaum zu erwarten ist. Für mich, der ich bis 1990 im Osten und seitdem im Westen lebte/lebe, ist eines völlig klar: Wer nicht bereit ist, sich über Monate, vielleicht Jahre im Osten aufzuhalten, wer es ablehnt, die Geschichte der DDR zumindest in Teilen zu lesen, wird den Denk- und Handlungsweisen und damit der Mentalität der Ostdeutschen nicht auf die Spur kommen (das Gleiche gilt natürlich auch umgekehrt). Ich weiß mittlerweile um die Trägheit der Sieger. Sie denken rational und meinen, dass es sinnlos sei, dem Untauglichen/Untergegangenen nachzuspüren. Hierin aber liegt ein Grundirrtum, der umso stärker wiegt, je mehr die Wiedervereinigung als Popanz betrommelt wird. Sehr wahrscheinlich, dass erst die kommende Generation Gemeinsamkeiten über Differenzen zu stellen versteht. Mag sein, dass eines Tages sehr viel mehr (positive) Ost-Erfahrungen im Westen gelandet sind und Grenzen verwischen helfen. Noch aber sind die Gräben tief – und es hilft niemandem, wenn wir diesen Umstand mit umarmendem Selbstbetrug zukleistern.

Nachtrag vom 13. August 2011: Heute vor 50 Jahren wurde in Berlin die Mauer errichtet: unser Not- und Schandmal. Diese Mauer zu verklären ist nicht mein Ding. Niemand kann entschuldigen, was an ihr und mir ihr geschah. Letztlich bewies sie nur eines: dass es den Protagonisten des „real existierenden Sozialismus“ nicht gelang, die Menschen zu halten, geschweige denn zu begeistern. Damit ist alles gesagt.
Nach einer gestern veröffentlichten Umfrage begrüßten 87% der Befragten die Wiedervereinigung als wichtiges und freudiges Ereignis, 11% hielten sie für unnötig/abträglich, und der Rest blieb unschlüssig.

(aus „abgebloggt“, 2011, Heiner Labonde Verlag)