Homo rapiens rapiens

Helder Yuren:

Homo rapiens rapiens – der Beherrscher des Planeten Erde

ISBN: 978-3-7357-7316-6 

©2014 helder yuren


Helder Yuren hat auf beeindruckende Weise mit dem Hier und Heute abgerechnet und seine Schlussfolgerungen in eine neue, nachhaltige Welt verbaut. Dass er sich dazu eines faszinierenden Stils bediente, verleiht dem Ganzen eine zusätzliche, literarische Dimension. Interessant sind auch die nachgeschobenen Stichwortproben, die bewusst als Richtigstellung der alten, konservativen Duden- und Lexika-Einträge konzipiert sind. Leider hält der Autor auch diesmal an der Kleinschreibung fest, was zumindest mein Leseerlebnis ein wenig eintrübte.

Mein Gesamturteil: Sehr lesenswert!

Der Autor analysiert die maßgeblichen Zustände auf unserem Planeten – überzeugend und schonungslos. Er stellt fest, dass eine Gesellschaft, dass ein Staat, der auf westlichen Werten, auf sogenannten demokratischen Freiheiten beruht, vor allem von Gier, Selbstsucht und Herrschaftsambitionen geprägt ist und deshalb zwangsläufig dem Abgrund entgegen segelt. Dahinter verbirgt sich keineswegs eine Verschwörungstheorie. Im Gegenteil. Yuren beweist an unzähligen Beispielen, wie perfide Wirkungsmechanismen Ressourcen und Umwelt auslaugen, den Menschen selbst stressen, indoktrinieren und in immer unüberschaubarere Konflikte stürzen.

Ähnlich wie Dennis und Donela Meadows stellt Yuren fest, wie es mit dem Hunger auf der Welt, mit dem Trinkwasser und der Luftverschmutzung bestellt ist, und er geht dann hart und unmissverständlich auch die kulturellen Probleme an, die unsere Gesellschaft paralysieren . Er verurteilt den Rauschgiftmissbrauch (vor allem auch den Alkoholkonsum), ist fassungslos ob der vielen Toten bei den täglichen „Straßenschlachten“ und benennt die Ursachen für die seines Erachtens haltlosen Zustände im westlichen Medienbetrieb. Der Autor hat dabei typische – beileibe nicht alle Entwicklungen – im Auge. Meint aber, dass die Auswahl der Themen und Fakten recht treffsicher typische Muster unseres derzeitigen Denken, Handelns und Nichthandelns benennen und aufzeichnen.

Wenn Yuren recht bunt Rüstungswettlauf und –exporte, zunehmende Suizide, die weltweiten Migrationsprobleme, eine Bilanz zum Thema „Strafen und Strafanstalten“, Gewalt gegen Frauen, die Gewalt im Ring, die Problematik der Kindesmisshandlungen, Infos zu den Geheimdiensten, zur Folter und zur Entwicklung der Weltbevölkerung mischt und dann auf die Abgründe der heute existierenden Staatswesen zu sprechen kommt, hat man zunächst den Eindruck, dass hier etwas willkürlich aneinander gereiht wurde. Dem ist nicht so. Vielmehr fügt der Autor Einzelerscheinungen ins Bild, die in z. T. lebhafter Wechselwirkung zu einander stehen. In Summe liefern sie schließlich logistische und logische Bedingtheiten und Begründungen für alle Explosionen, die der Autor am Horizont sieht.

Es ist hohe Zeit – so der Titel der zweiten Buchhälfte. Es ist hohe Zeit – so der Autor – die Welt zu verändern, „nicht, weil Marx das gesagt hat, sondern weil die Welt ohne Perestroika zugrunde geht.“ Schon die Rüstungsrechnung, schon die Wirtschaftsrechnung und erst recht die Klimarechnung für sich genommen, signalisieren höchste Gefahr. Was zuweilen blödes, „damoklesschwertiges“ Starren, aber keine wirksame Reaktion auslöse. Der Versuch, die Dinge komplex anzugehen, der Versuch, eine universalhistorische Betrachtung anzustellen, der Heutiges in einen real gültigen Kontext stellt, scheitert in der Regel. Yuren fordert diese Herangehensweise. Wörtlich formuliert er: „Der kardinale Denkfehler der Experten ist die Unterstellung, die Zukunft lasse sich fassen, ohne die Vergangenheit angemessen in Rechnung zu stellen. Die Geschichte der Menschheit wird wie eine quantité négligeable außer acht gelassen, obwohl es doch in jedem der Rechen-Exempel um nichts anderes als die Fortschreibung von Geschichte geht.“ Wer aber Geschichte lediglich als Geschichte von Staaten – oder noch kürzer gefasst – als Geschichte von Nationalstaaten, ja letztlich als reine Faktensammlung versteht/interpretiert, werde nicht begreifen, was wirklich passiere und die heutigen Muster menschlichen Verhaltens als gegeben hinnehmen – weil anderes einfach nicht erinnerlich/überbracht sei. In Wirklichkeit gehe es aber nicht um eingedampfte Datensammlungen, sondern um die jahrmillionen-lange Geschichte der Menschheit, aus der man Strukturen und Wandlungen extrahieren müsse.

Yuren weist mit Nachdruck darauf hin, dass es vor der Gründung der Dörfer und Städte, bevor der Besitz an sich definiert war, bevor der Traditionsbruch zwischen Urgesellschaft und Patriarchat stattfand, ein harmonisches, kooperatives Miteinander bei gleichzeitiger Vorwärtsbewegung gegeben habe. Was die Schlussfolgerung erlaubt, dass solch ein Verhalten des Menschen prinzipiell möglich ist. Versuche der Veränderung ohne Herrschaftsanspruch – so ergänzt Yuren an anderer Stelle – waren durchaus erfolgreich. Man denke an Organisationen wie die buddhistischen Mönchorden oder an Daoisten und Dschainisten in Asien, an Pythagoräer, Akademiker und Epikuräer der alten Griechen, an NGOs wie Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International etc. in der Gegenwart.

Dem allerdings stünde die jahrtausende alte Auffassung gegenüber, dass Macht, Besitz, Status, hierarchische Ordnung und Tradition der alles bewegende Motor sei – obwohl es gerade diese Komponenten seien, die uns dem Untergang entgegen trieben (Yuren zitiert Marilyn French).

Yurens Hoffnung gründet auf dem Willen zur Abkehr/Umkehr/Überwindung der falschen Muster und folgt einem Optimismus, der sich Stufe um Stufe aus der Richtungsänderung heraus ergibt.

 

Eine Analyse der derzeitigen kapitalismusrelevanten Machtverhältnisse führt sehr schnell zu einem einleuchtenden Ergebnis: „Alle bisher geschriebene Geschichte ist nichts anderes als eine jahrtausendelange Herrschaftsmaskerade. Alle Umstürze und Veränderungen waren lediglich Maskenwechsel stets derselben Fratze HERRschaft.“

Herrschaft manifestiert sich, Herrschaft befestigt sich mit der Hierarchisierung. Den perfekt organisierten Brigaden von Polizei und Armee stehen die meist plan- und regellos umherirrenden Massen oft hilflos gegenüber. Vor allem das Milgram-Experiment, auf das sich Yuren häufig beruft, macht deutlich: Der durch Hierarchie und Herrschaft vereinnahmte Mensch wird schnell und „unkompliziert“ zum Verbrecher, der alles mitmacht und den Anweisungen von oben bis zum Äußersten folgt. Querulanten und äußeren Konkurrenten droht dann – wenn es den Herrschenden zweckvoll erscheint – sehr schnell die inner- oder außerstaatliche Konfrontation.

Und etwas weiter im Text heißt es: „Der unaufhebbare Widerspruch zwischen dem Hominisationserbe der Urgesellschaft und den Erniedrigungen des Menschen in der Zivilisationsgesellschaft ließ Herrschaft in keinem Erdteil und Jahrtausend zur Ruhe kommen. Das Schutz- und Sicherheitsversprechen der Hochkultur konnte keinmal eingehalten werden. Rebellen rissen der Herrschaft tausendmal die Maske ab, doch genauso oft trat vielversprechend die nächste Herrschaft an. Aus diesem menschlichen Dilemma führt nur ein einziger Weg hinaus, der Weg aus den Kriegs- und Herrschaftsverhältnissen in die Weltgesellschaft ohne Herrschaft, das heißt auch, ohne Krieg.“

 

Wissenschaft sei, so fährt Yuren fort, eine wichtige Antriebskraft. Doch heute seien ihre Vertreter so spezialisiert, dass sie „zu wenig wissen, um sich mit anderen Experten zu verständigen.“. Zum anderen „haben Wissenschaftler heute keine Herrschaftsmacht, sondern verdingen sich im Dienst der Neukühnen und Ahnungslosen, obendrein arrogant Regierenden […]. Wissenschaft wurde und wird einerseits massiv gefördert, andererseits aber ist sie zur Dienstleistung im Auftrag mächtiger Interessenten verkommen, sei es im Auftrag einer Regierung, sei es im Interesse eines Konzerns“.

Hier gelte es grundlegend umzusteuern. Mit Blick auf die Gesellschaftswissenschaften kritisiert Yuren, dass es neben dem Demokratiegeschwätz nirgendwo den ernsthaften Versuch gebe, die komplizierter werdende Welt als Ganzes zu begreifen. Dass der Durchschnittsbürger mit einer solchen Aufgabe überfordert ist, liegt auf der Hand. Die Welt sei viel zu komplex für das Fassungsvermögen des politisch interessierten Staatsbürgers. Das habe Walter Lippmann schon vor 90 Jahren festgestellt. Die indirekten und zum Teil manipulierten Nachrichten seien eine schlechte Grundlage für die Meinungs- und Urteilsbildung. Im Bewusstsein der Durchschnittswähler/-wählerinnen würden die Halbwahrheiten dann noch mit individuellen Vorurteilen, traditionellen Einstellungen, unbewussten Regungen und missverstandenen Schulweisheiten verquirlt. Und übrig bleibe ein wertloser Meinungsbrei.

Auch die meisten Politiker seien unfähig, in großen Zusammenhängen zu denken. Zwar werde in der Hightech-Gesellschaft für jeden Job eine qualifizierte Aus- und Weiterbildung verlangt, für die schwierigsten und wichtigsten Aufgaben aber, für das Geschäft der Gesellschaftsleitung, für die Erziehung der Kinder verlange niemand einen Eignungsnachweis. In der politischen Klasse zähle allein der Machtinstinkt, bei der Erziehung der Folgegeneration der Brutpflegeinstinkt.

Wenn überhaupt jemand in der Lage sei, eine Sachfrage befriedigend zu beantworten, dann sei es ein Experte, ein Mann oder eine Frau mit Spezialwissen. Doch auch denen sei es nicht gegeben, ganze Länder, geschweige denn die gesamte Welt zu überblicken.

Um hier weiteres Potential freizulegen, müsse sich die Wissenschaft von der ihr aufgezwungenen Gängelung/Bevormundung befreien. „Im Zeitalter der Wissenschaft“ – so Yuren wörtlich – „müssen Expertengremien im Entscheidungsfindungsprozess zumindest soviel Gewicht haben wie die Berufspolitiker/Volksvertreter.“ Ersteren müsste statt einer Politikerpersönlichkeit eine Ethikative („Rat der Weisen“) als übergeordnete Instanz vorstehen.

Im Folgenden analysiert Yuren die Geschichte von Produktion und Wirtschaft. Auch in diesen Bereichen stößt er auf weitreichende Herrschaftsansprüche (Zitate: Jacob Burckhardt). Macht, folglich auch wirtschaftliche Macht – so folgert er – sei böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also andere unglücklich machen (Weltgeschichtliche Betrachtungen). Und weiter wörtlich: „Während im Staat die Ungleichheit der Einwohner unübersehbar groß ist, vom Briefträger bis zum Postminister etc., öffnet sich in der Wirtschaft die Schere zwischen arm und reich ins Unermessliche, vom Bettler zum Multimilliardär.

Keine Frage, Helder Yuren hat seine Sicht auf die Dinge mit viel Verve, zuweilen auch provokativ vorgetragen. Dem ist aus meiner Sicht wenig hinzuzufügen. Im Detail bin ich weniger versessen auf die Abschaffung von Straßenverkehr und Alkohol. Das aber heißt nichts.

Sehr viel schwieriger gestaltet sich das, was Yuren sein Experiment, seinen Versuch Zukunft nennt. Plötzlich geht es darum, neu zu gestalten, eine Struktur zu entwickeln, die lebens- und damit zukunftsfähig ist. Der Autor will seinen Versuch auf wissenschaftliche Weise angehen – ergebnisoffen. Er schlägt vor, das Ganze in einem kleinen, sprich: überschaubaren Land zu verwirklichen, einem Land, das wenig durch Religion und Landwirtschaft geprägt, das politisch und wirtschaftlich ausgelaugt ist und deshalb dem „Neubau“ gewogen sei müsste. Und schlägt Montenegro vor. Um den Übergang zu beschleunigen, seien gesellschaftliche Experimente in kleinen Modellstaaten unverzichtbar. Dennoch bleibt der Grat schmal. Denn weder Revolutionen, noch die sogenannten kleinen (Veränderungs-) Schritte im herkömmlichen Stil (sprich: System) hält der Autor für zielführend. Revolutionen und Umstürze alter Art seinen zu gewalttätig, zu umweltschädlich, zu ressourcen- und zeitverschwenderisch.

Wie aber will er das Ding dazwischen – das Alte weg, das Neue ohne Gewalt, sprich: die (ethisch-humanistisch vertretbaren) Bedingungen des Menschenmöglichen installieren und dauerfest machen? Dazu gibt es vorerst keine Antwort.

Stattdessen den Vorschlag, dass die Weltgemeinschaft in das neue Konstrukt investieren müsse – mit dem Ziel, „gespielte Existenzfähigkeit“ als Keimzelle für den gesamten Planeten zu generieren. Heißt: Yuren möchte ausprobieren, ob seine Vorstellungen von einer neu strukturierten Welt im Kleinen funktionieren, um sie dann großflächig zu übertragen. Und eines weiß er schon: Nur wenn das neue Modell überall und vor allem nahezu gleichzeitig zum Laufen komme, habe es eine Chance, den gesamten Erdball zu überspannen und in diesem Verbundsystem zu funktionieren.

Jedes Arrangement des Versuchs – erklärt der Autor – sei stringent aus der Distanz zum derzeit dominierenden westlichen Gesellschaftssystem zu begreifen, aus der Abkehr von der Kriegsgesellschaft, deren hervorstechende Zeichen Wahn und Gewalt seien. Das Experiment ziele auf die entgegengesetzten Verhältnisse, deren Merkmale mit Wissen und Gewissen, mit Verständigung und Kooperation umschrieben werden können.

Die Auswahl dieser Substanz ehrt den Verfasser. Was mir dagegen etwas illusorisch erscheint, ist die Feststellung, dass das, was das Jetzige ablösen soll, aus dem Säckel des alten Systems bezahlt werden soll. Zweifellos addiert sich dann der Widerstand von Finanzministern zum Widerstand derer, die Yuren außerdem schassen will. Ein erheblicher Brocken, zu dessen Auflösung/Aufbrechen wenig bemerkt wird.

Bereits in seinen Vorbemerkungen zum Versuch Zukunft macht Yuren deutlich, dass es ihm künftig um qualitative Veränderungen geht. Damit das neue Denken nicht vereinnahmt werde von neuer Herrschaft – so sein virtueller Fingerzeig – müsse es anders sein als alle Vorbilder; abgesehen von den Anarchisten wollten alle Gesellschaftskritiker und Revolutionäre bisher die Herrschaft (nur) verbessern, an die Stelle der schlechten Führung eine gute setzen. Die Abschaffung der Herrschaft an sich sei niemandem – auch dank Plato – in den Kopf gekommen. Gleichzeitig beschwört Yuren die augenblickliche Situation, die ihm einerseits höchst gefährlich, andererseits aber überaus geeignet scheint, einen Wandel herbeizuführen. Konkret stellt er fest: „Heute haben wir eine radikal neue Weltlage durch die Entwicklung der Waffen und der globalisierten Wirtschaft. Das Versagen der Herrschenden hat horrendere Folgen denn je, sei es im sogenannten Frieden, sei es im weiter praktizierten Krieg als Mittel der Politik. Die Maßstäbe sind, technisch bedingt, ins Maßlose verschoben. Andererseits haben wir heute (im Gegensatz zu vergangenen Jahrhunderten) die kritischen Wissenschaften als mögliches Korrektiv der Herrschaft; außerdem haben wir jetzt ein elektronisches Kommunikationsnetz rund um den Globus. Gegenüber diesen globalen Netzen ist jede einzelne Herrschaft zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte in einer peinlichen Minderheitsposition.“

Diese Feststellung gehört zum Wesentlichsten des Yurensschen Werkes: Uns könnte sich jetzt die zweifellos bedeutendste Chance für einen Wechsel der Gesellschaft eröffnen. Ohne Riesenverluste. Sehr viel später sei sie mit Sicherheit vertan. Denn ausbleibende Rohstoffe, der fortgesetzte Raubbau an der Natur und die Verfehlung des 2-Grad-Zieles würden die Katastrophe einleiten und die Freiheitsgrade für Veränderungen drastisch einschränken resp. völlig zunichte machen.

Doch zurück zum Konstrukt: Yuren verkündet vier Hauptziele, die in seinem Modellstaat verwirklicht werden müssten. Zunächst geht es ihm um die Regionalisierung. Dabei bricht er vor allem mit dem Machtapparat. Wörtlich sagt er: „Im Hintergrund liegt überall und immer die Keule des Militärs bereit, denn die höchste Form der Macht und Verfügungsgewalt, der höchste Kick der Machtkranken ist das Oberkommando. Damit Menschen nicht wie Vieh erst in Parteipferche gelockt und später gegeneinander aufgehetzt werden können, sind sowohl das Militär als auch der Parteienstaat im Zukunftsversuch außen vor. Von allen Herrschaftsapparaten soll lediglich eine radikal abgespeckte Verwaltung übrig bleiben […]. Wie wichtig vor allem die Kleinräumigkeit (der „Verwaltungsbezirke“) ist, beweist Yuren mit dem Milgram– Experiment. Das mache mehr als deutlich, dass das Entferntsein von Geschehnissen und Menschen enthemmte Herrschaft und Wahn begünstigen (s. die Drohneneinsätze der Amerikaner d. Red.), während das Gegenteil – Nähe und persönliche Bekanntschaft – Geschäftsgebaren und das Miteinander der Menschen humanisieren.

Yuren weiter: „Die notwendigen Entscheidungen im gesellschaftlichen Prozess sollen nicht von relativen Mehrheiten abhängen“. Der Autor beklagt zu Recht, dass bei sog. Freien Wahlen in den westlichen Demokratien 40% der Bürger problemlos zur Mehrheit erklärt werden können (bei geringer Wahlbeteiligung ist theoretisch ein noch geringerer Prozentsatz möglich d. Red.). Für viel gerechter hält Yuren folgenden Ansatz: „Diskussionswürdige Vorschläge sollen alle Menschen einbringen können, Einzelne und Gruppen, Alteingesessene und Zugezogene. Was aus den Eingaben wird, beschließen keine Parteiversammlungen, sondern in erster Instanz Expertenrunden, in der jeweiligen Sachfrage ausgewiesene Sachverständige (die freilich durch Rückkopplung und Vergleiche einer Kontrolle unterliegen […]. Z.B. prüfen Juristen die rechtlichen Belange, andere Spezialisten die Folgekosten usw.). Wenn eine Initiative alle Gremien der Sachverständigen passiert hat, muss der Präsidialrat der zehn Weisen die Vorlage gegenzeichnen, bevor sie Gesetzeskraft erlangt (oder dieselbe zurückweisen d. Red).“

Apropos Präsidialrat: Was seine Wahl anbelangt, so tut sich hier selbst für den Autor eine Hürde auf. Wen wählt man da wie?

Zunächst fordert Yuren, dass die Leute in diesem Gremium über mindestens 60 Lebensjahre hinweg eine verantwortungsvolle Haltung und Lebensführung bewiesen und sich durch Weltwissen und –gewissen ausgewiesen haben müssen. Zumindest die Hälfte der Präsidialräte müssten aus der Region stammen, damit eine genaue Kenntnis der Verhältnisse im Zehnerrat gegeben sei. Und vor allem: „Die mächtigen (vetoberechtigten) Frauen und Männer dürfen nicht machtkrank sein.“ Ihre Biographie müsste im Gegenteil ihre Integrität und Gelassenheit beweisen.

Im Unterbau (im Bereich der Verwaltung) müsse der Lobbyismus zunächst eingeschränkt, dann verboten werden.

Ganz ohne polizeiliche, gerichtliche und andere Kontrolle werde man im Experiment nicht auskommen. Sie werde aber relativ unkompliziert, weil die Bevölkerung wegen der besseren Überschaubarkeit selbst die Dinge im Auge habe. Überwachung werde eine Aufgabe der Bürger und kaum mehr der Sicherheitskräfte.

Das zweite Hauptziel heißt Ökologisierung. Im Experiment gehe es darum, weitestgehend umweltfreundliche Lebens- und Wirtschaftsweisen durchzusetzen. Eben das – so Yuren in seinem Plädoyer – sei die echte Alternative. Etwas Halbherziges, sozusagen „Mittelgutes“ gebe es nicht. Und wörtlich: „Bevor dem Zehnerrat reife Beschlüsse zur Absegnung vorgelegt werden, müssen sie ökologisch geprüft und als unbedenklich erklärt und begründet worden sein.“ Um egoistisches und machtorientiertes Verhalten auszumerzen, müssten – so die Vorstellung des Autors – „die Besitzenden ebenso an den Rand und schließlich über ihn hinaus gedrängt werden wie die Lobbyisten und Parteisoldaten im Verwaltungsapparat der öffentlichen Angelegenheiten.“ Überhaupt hat viel Eigentum keinen Platz im neuen System. Alles, was über die unmittelbaren Bedürfnisse hinausgehe, sei überflüssig.

Betriebe würden in der Versuchsregion von Fachleuten geführt, so wie es heute schon meist der Fall sei. „Nur hat dann nicht mehr der Chef oder Vorstand das letzte Wort. Das hat dann der ökologische Aufsichtsrat, der nicht Teil des Betriebes sein muss.“

Und weiter: „In der Übergangsphase erhalten die abdankenden Eigentümer eines Unternehmens eine angemessene Entschädigung. In der folgenden Generation erübrigt sich das Trostpflaster, weil Erbschaften generell abgeschafft sind (!)“

„Klar“, fügt Yuren hinzu „dass die Landwirtschaft rein ökologisch betrieben wird […].Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass dann die Gülle nicht mehr zum Himmel stinken wird (weil es natürlich auch keine Massentierhaltung mehr gibt d. Red.).“

Der Privatbesitz von Sendern, Verlagen etc. sei nicht mehr möglich, weil nur auf diese Weise die Meinungsmache als Gegenstück zur freien Meinungsäußerung ausgehebelt werden könne. Die Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Institutionen würde dem Zehnerrat unterstellt.

„Im Experiment“ – so Yuren weiter „darf es keine privaten Banken geben. Sie sind allesamt öffentlich-rechtlich aufgestellt und werden wegen ihrer überragenden Bedeutung für die gesamte Gesellschaft direkt vom Zehnerrat überwacht.“

Applaus, lieber Autor. Wenn ich das richtig verstehe, bleiben Genossenschaftsbanken – die ja auch private Banken sind – erhalten, Hier ginge es offenbar darum, deren Größe zu begrenzen. Einverstanden!

Skeptisch bin ich, was die Effektivität der öffentlich geführten Unternehmen angeht. In den sozialistisch regierten Volksrepubliken, in der Ex-DDR hat sich damals vielerorts eine lustvoll-nette und faule Belegschaft etabliert, der nicht/kaum mit Rausschmiss gedroht werden konnte. Es gab ja die Vollbeschäftigung. Die wiederum die Effizienz der Arbeit tendenziell schmälerte. Gibt es in der neuen Welt des Autors überhaupt eine Arbeitslosigkeit? Und wenn ja: in welchem Ausmaß? Und welche Möglichkeit gibt es, die notorisch Faulen, all diejenigen, die sich a priori um jedwede Arbeit drücken, zu reglementieren?)

Das dritte Hauptziel im Experiment heißt Aufklärung. Alle Institutionen sollen ausschließlich ihr dienen. Das bedeute, dass von der Verwaltung der Versuchsregion bis zur Verwaltung jedes Betriebes die Kritik nach innen und außen äußerst wichtig wird. Es gehe nicht mehr um Einzelkarrieren, sondern um das menschenmöglich beste Ergebnis für die Region als Teil der Menschheit.

Aufklärung tue besonders not in den finsteren Winkeln der alten Gesellschaft, etwa in den Familien als Reproduktionskammern oder in den Dunkelkammern der Religion und Esoterik, Astrologie und anderen Formen der Kaffeesatzleserei. „Die römisch-katholische Kirche und andere Gespensterprediger werden nicht verboten […], sondern aus der Öffentlichkeit verbannt. Beten und Träumen kann und soll man nicht verbieten.“

Was an dieser Stelle folgt, stimmt bedenklich. Yuren unterstellt zu schnell, dass alle mitspielen. Dass ihm die schlechten und bedenklichen Eigenschaften des Menschen nicht verquer kommen. Sehr viel dürfte im Experiment davon abhängen, wie sich der Mensch auf die Neuerung einstellt, ob er aktiv auf sie zugeht, die Dinge geschehen lässt oder heftig dagegen opponiert. Nun ist der Mensch kein Einheitstier – mit der Folge, dass es sehr unterschiedliche Reaktionen geben dürfte. Bisher jedenfalls haben die machtbewussten, gierigen und hinterhältigen Typen unseren Erdenkreis beherrscht, und sie halten an diesem Anspruch fester denn je. Ob es unter diesen Bedingungen zum Experiment überhaupt, geschweige denn zu seiner großflächigen Umsetzung kommt, dürfte davon abhängen, ob Machthabende überzeugt oder friedlich von Macht und Besitz befreit werden können. Mir schwant da nichts Gutes.

Sicher ist es nicht damit getan, dass Yuren die Beobachtung und Aufklärung animalischer Verhaltensweisen (Machtkampf, Imponiergehabe etc.) sowie unbewusster Reaktionen und Handlungsimpulse in der Gesellschaft zur wichtigen Aufgabe erklärt. Die Frage ist: Lässt sich das, was die Evolution in unsere Körper gebrannt hat, moderat „ins Freundlich-Vernunftgesteuerte“ umformen“ oder müssen die staatlich geführten Knäste für „Straffühler und –denker“ erweitert werden.

Die wahn- und gewaltfreie Erziehung ist ein weiteres Hauptziel in Yurens Denken. „Menschenrechtler,“, so formuliert er wörtlich „die in der Erklärung der Menschenrechte der UNO allen Menschen das Recht zusprechen, Kinder in die Welt zu setzen, haben nicht bedacht, dass sehr viele Menschen weder Neigung noch Eignung zur Förderung der (eigenen) Kinder haben (viele Kinder werden ungewollt gezeugt und deshalb niemals geliebt! d. Red.) […]. Besonders der Staat und die katholische Kirche tragen seit Jahrhunderten zum Unglück der Kinder […] bei. Gar nicht zu reden von der Überbevölkerung und Verstädterung mit den bekannten sozialen und ökologischen Folgen.“ Als ersten Schritt zur Überwindung der unerträglichen Verhältnisse fordert der Autor den Elternpass – quasi einen über Elternkurse erworbenen Qualifikationsnachweis dafür, dass Eltern bzw. alleinerziehende Elternteile zur Erziehung fähig sind. Auch „instinktsichere“ Mütter und Väter in spe müssten eine gründliche Kontrolle durchlaufen. Ohne diese Prüfung dürfte der Familiengründung nicht zugestimmt werden.

Der Autor spricht ganz bewusst von Reproduktionskontrolle und dürfte allein aus diesem Freiheit beschränkenden Anlass heraus auf massivsten Widerstand stoßen. Von Seiten der Menschen, die einfach nach Herzenslust kopulieren und Familien nach ihrem Gustos gedeihen oder verderben lassen. Von Seiten der Herrschenden, denen kaputte Familien, ungewollt gezeugte Kinder als oft willenlose, gestörte Manövriermasse für Produktion und Kriege willkommen sind.

Getreu der Formel „alles ohne Wahn und Gewalt“ möchte Yuren auch die traditionellen staatlichen und privaten Schulen – die er stets als integralen Bestandteil der alten Herrschafts- und Kriegsgesellschaft betrachtet hat – abschaffen. Stattdessen schlägt er sogenannte Kinderhäuser vor, in denen Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedener Profession zusammen leben – ganz gleich, ob sie eigene Kinder haben oder nicht. Das Kinderhaus verbinde die Vorteile der alten Erziehung in der Großfamilie mit den Vorteilen einer Gruppe aufgeklärter Menschen für die Entwicklung der Kinder. In solcher Obhut müsste eine gesunde Ernährung ebenso umgesetzt werden wie gewaltfreies Lernen. Bei Letzterem müsse es vor allem um Erkundung und das Erlernen von Sprachen gehen. Wobei Erkundung selbständiges Lernen durch Experimente, Exkursionen und Erlebnisse bedeute. In dieser Struktur gebe es keinen Stundenplan. Der ganze Tag sei Lernzeit. Es finde kein traditioneller Unterricht statt. Vor allem ginge es darum, so Yuren weiter, zerstörerische Antriebe zu deckeln. Es dürfe zukünftig keine Wettkämpfe, schon gar nicht in den Kampfsportarten geben. Sport und Spiele sollten ausschließlich der Freude und dem Erhalt der Gesundheit dienen, wobei vorrangig gemeinsame Ziele anzustreben seien. Der Wettbewerb bliebe ausschließlich der geistigen Auseinandersetzung vorbehalten.

Auch hier dürfte der Autor auf massive Bedenken in der Bevölkerung stoßen. Die eingefleischten „Hahnen- und Stierkämpfe“ auszurotten, ja selbst Olympia und die Fußball-WM abzuschaffen dürfte angesichts der offensichtlichen Beliebtheit im Volk zur einer Aufgabe aufwachsen, die kaum jemand schultern will und kann. So vor sich hinzusporteln dürfte angesichts von Testosterondruck und Ehrgeiz meist Kopfschütteln auslösen. Als Rentner, der ich heute bin, kommt mir Yurens Auffassung sehr entgegen. Aber bestimmen wir Alten den Lauf der Welt?

Einfach unnötig ist m. E., dass Yuren auch den allgemein gültigen Kalender abschaffen und die tägliche Zählung am Ende der letzten Eiszeit, sprich: bei Beginn der Domestikation des Menschen beginnen will. Seine Verachtung gegenüber den römischen (Kalender-)Ursprüngen brennt da – m. E. – mit ihm durch. An die Kosten einer solchen Umstellung hat er offenbar nicht gedacht.

Wie sagte schon Oscar Wilde: „Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre nicht wert, dass man einen Blick darauf wirft, denn auf ihr fehlte das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet. Und wenn die Menschheit dort gelandet ist, hält sie wieder Ausschau, und sieht sie ein schöneres Land vor sich, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.“

Den Sinn dieser Worte muss Helder Yuren auch im Kopf gehabt haben – allerdings nicht frei lieblich gedanklich, sondern nach dem Motto: Entweder ihr berappelt euch jetzt, oder ihr müsst eben untergehen. Ganz klar, dass das ohne zeitweiligen Anarchismus bei gleichzeitigem ökologisch motivierten Dirigismus nicht zu machen ist. Bleibt zu hoffen, dass prophezeite Ergebnisse genug Anreiz für diese Art von Begehung und Veränderung bieten.

Der Überschrift „Utopie als Ultimatum“ folgt zunächst der Hinweis auf altindische buddhistische Denkweisen, die der Autor als „relativ erfolgreiches Muster“ für die Umgestaltung der altfalschen Gesellschaft entgegen nimmt. Quasi synchron stößt der Zeigefinger: Seht mal ihr (wild-)westlichen Athener, es geht doch! IHR allerdings seid zu verkommen, um dem Licht zu folgen. Dieser Verriss wird noch ausgebaut. Yuren stößt abermals tief in die Abgründe des KAP – offenbar, um den Boden für Neues endgültig zu bestellen. Dabei muss er auch feststellen, dass seine Vision scheitern könnte.

Zunächst formuliert er – für meine Begriffe völlig richtig: Es kann keine individuelle Lösung der Weltprobleme geben. Diese „lassen sich leider nur durch grundlegende Veränderungen in aller Welt anpacken. Kein noch so begeistert gefeierter Regierungswechsel kann den notwendigen globalen Systemwechsel ersetzen. Der überall regierende Unmensch muss überall abtreten. Das Ereignis will gut vorbereitet sein.“ Und weiter: „Die inhumanen Ungleichheiten durch Besitz und Erbschaft sind abzuschaffen oder: die Égalité ist endlich zu verwirklichen […]. Ungleichheit ist verwerflich wie der Naturzustand, der Rückfall auf die Rauf-Ordnung der Affen und Wölfe.“

Wie weit will Yuren an dieser Stelle gehen. Ab wieviel Dollar/Euro ist Besitz unzulässig. Christian Felber hat dem Bürger noch 10 Millionen zugebilligt http://www.amazon.de/Die-Gemeinwohl-%C3%96konomie-Das-Wirtschaftsmodell-Zukunft/dp/3552061371#reader_3552061371, hier fehlt jedes konkrete Maß. Ich selbst habe die relative Gleichheit (von Besitz) in der DDR erlebt (vererbt werden konnte ohnehin nicht viel). Das hat unter Zwang irgendwie geklappt. Der Rest aber wurde verspielt – mit Égalité im gleichgeschalteten Denken bei absoluter Herrschaft der Partei (SED). Gewiss, das möchte Yuren nicht. Aber kann das überhaupt funktionieren mit der relativen Gleichheit des Besitzes. Stirbt da nicht – ähnlich wie in der Ex-DDR jeder Ehrgeiz, jede Kreativität? Ist die totale Orientierung auf neue Werte jenseits des Geldes überhaupt möglich (wir können ja nicht von durchsetzbar sprechen – im Sinne diktatorischen Vorgehens)?

Kurze Pause.

Yuren fasst noch einmal richtig zusammen: „Nicht das Wissen noch die Solidarität bestimmen heute das Weltgeschehen, vielmehr immer noch Wahn und Gewalt. Neben dem Wissen ist die Expansion der Weltbevölkerung vergleichbar immens und erst recht die Schwindel erregende Erhöhung der Mordrate durch die hoch gezüchtete Waffentechnik. Die drei Tatsachen stellen die Menschheit vor eine einmalig harte Prüfung. Ein Weiterso ist unmöglich. Es würde das nahe Ende der Menschheit bedeuten.“ Und nahezu am Schluss: „Im wirklichen Leben muss und kann allein die Vernunft die globalen Problemansammlungen beherrschen und auflösen, die Vernunft der Experten, kontrolliert vom Weltethos der Weisen.“

Trotz dieses Optimismus ist sich der Autor im Klaren darüber, dass solch ein Wandel selbst bei der gegenwärtig günstigen Konstellation (s. o.) nicht zwanghaft, sprich: von allein erfolgt. Abschließend philosophiert er deshalb: „Das Raumschiff Erde zu steuern setzt noch ein wenig mehr Sachverstand voraus als die professionelle Schipperei, aber auch noch mehr Gewissen. Darum kann die Erde (als lebenswerte Zone für die Menschheit d. Red.) die nächsten Jahrzehnte nur überleben, wenn der Plan der ultimativen Utopie in die Tat umgesetzt wird. Geschrei und Schiebung müssen aufhören, ersetzt durch die ernste Arbeit der Experten. Das wird die Schreier/Schreierinnen und Schieber/Schieberinnen nicht überzeugen. Nur das Scheitern der alten Schnapsgesellschft auf allen Gebieten, nicht bloß im Finanzsektor, kann die Verrannten und Verirrten evtl. zum Einlenken zwingen. Garantiert ist aber auch das nicht. Die Einsichtigen sind gefordert.“

Mit diesem – für meine Begriffe nicht ganz klaren – Schlusssatz überlässt uns Helder Yuren der großen Denkminute. Bedarf es nun der erzwungenen Einlenkung, oder müssen die Einsichtigen keine Rücksicht auf die Verirrten und Verrannten nehmen, weil die allgemeine Einsicht plötzlich doch mächtiger ist? Irgendwie hat es den Anschein, als würde der Autor die NICHT-MITMACH-WILLIGEN auf kleine Nebenschauplätze verorten. Was er meines Erachtens nicht darf, denn die Trennung von der Macht würde auch diesmal nicht gewaltlos erfolgen können.

Oder heißt das gar: Wenn es nicht gelänge, die Verirrten und Verrannten auf neuen Kurs zu bringen, dann scheiterte das ganze Projekt?

Immerhin gehört Helder Yuren nicht zu den ständig Meckernden, die außerhalb ihres lächerlichen – weil gehaltlosen – Protests nichts draufhaben. Er kritisiert schonungslos, hat aber eine Vision dessen, was sein müsste. Das ist – selbst wenn die Realisierung seiner Utopie nicht, kaum oder nur unter größten Schwierigkeiten machbar wäre – unendlich mehr. Er kann sagen: Ich habe den Verschleiß unseres Planeten, die Gefährdung unserer Moral durch Macht und Wahn erkannt und … einen Vorschlag gemacht.

Kritiker wie ich können so Geschriebenes – resp. Teile davon – problemlos auseinander nehmen. Sie finden natürlich das Haar in der Suppe und glauben sich schnell im Besitz von Bremse und GEHTdannDOCH nicht. Zerstören geht immer. Aufbauen kaum noch. Solches Gegenüber allein ist wertlos.

Christian Felber hat in seiner Gemeinwohl-Ökonomie sehr ähnliche Gedanken aufgemacht. Auch seine Alternativen basieren auf Nachhaltigkeit und Gewaltfreiheit. Er ist weniger radikal als Yuren. Doch auch bei ihm gilt – wenn auch unausgesprochen – der Satz: Der Wandel muss überall – und zwar möglichst gleichzeitig – erfolgen, damit er an jedem Punkt des Planeten das Neue ohne militärische Auseinandersetzung mit dem Alten gebären kann. Ähnlich wie die Gemeinwohl-Ökonomie kann sich Yurens Welt in der Brutalität des Alten und in Konkurrenz zu ihm kaum entfalten. Die gnadenlose Ellenbogen- Wut, der Egoismus, das Desinteresse der Massen am Systemischen generierten und generieren auch künftig eine zerstörerische Kraft, der kaum etwas gewachsen ist. Der von Yuren ersehnte Umbruch ist im Grunde genommen auch ein Gewaltakt, der aber im Unterschied zum Herkömmlichen ohne Gewaltanwendung vonstatten gehen muss. Hier liegt das eigentliche Problem. Die alten Verbrecher werden nicht loslassen und schon gar nicht vernunftgesteuert auf ihre Pfründe verzichten – so zumindest meine Vermutung. Wie auch sollte man das mit Blick auf die vererbte Genetik annehmen können (die Herrschenden und auch große Teile der Beherrschten sind die Überlebenden der Schlausten, Cleversten, Radikalsten, körperlich Stärksten und ethisch Verkommensten)?

Helder Yuren muss damit leben, dass er seine Gegner leben lässt – sie nicht etwa diktatorisch-revolutionär ausrottet. Sie, diese Gegner, müssen ja im Gegenteil ihr Kapital, ihr Know-how, ihre geldwerte Soft- und Hardware, ihr Dienstleistungspotential – jedenfalls den für die neue Gesellschaft nutzbaren Teil dessen – kampflos bereitstellen, damit das Neue ihre alte, verrottete Existenz erfolgreich an die Wand drücken kann. Was für ein Unterfangens!

Irgendwann frage ich mich natürlich auch, wie diese neue, von Yuren erdachte Gesellschaftsordnung heißt. Mit Kapitalismus hat sie ja nicht mehr viel gemein. Folgt daraus automatisch, dass die Grundvoraussetzung für KAP, das Wachstum, zur Nebensache gerät, sprich: eher zufällig relevant oder unwichtig ist? Dann nämlich dürften bisherige „Zuwachs-Speiser“ wie Krieg & Zerstörung, wie bewusst eingebaute Produkt-Kurzlebigkeiten, das Generieren von Bedürfnisse, die keine sind etc. in völlig neuem Licht erscheinen/(endlich) ad absurdum geführt werden.

Ich habe mich in „Störfall Zukunft“ ebenfalls abgemüht, ebenfalls versucht, typische Entwicklungen in unserer Welt – separat und komplex verknüpft – darzustellen. Meine Analyse fällt sehr ähnlich aus. Anders meine Vorausschau: Sie basiert auf der Annahme, dass der Mensch unseren Planeten gegen die Wand fährt. Und dass erst durch die Katastrophe ein neues Denken angestoßen werden kann. Das dann aber keineswegs Bestand haben muss. So wie die Entfernung vom Krieggeschehen die Sensibilität zum Thema verblassen lässt, so wie Revolutionen – zumindest auf längere Sicht – immer wieder das alte Herrschaftsgebaren gebären (es dominieren Wahn und Gewalt), könnte auch ein katastrophenbedingtes korrigiertes Denken nach Jahrzehnten wieder in alte Muster zurückfallen – dank der netten genetischen Disposition. Leider wurde die Welt bis heute – ich wiederhole mich bewusst – fast immer von Menschen mit vorrangig destruktiven, („schlechten“) Eigenschaften beherrscht. Es gibt folglich keinen Grund anzunehmen, dass diese Kette plötzlich reißt oder sich ins Gegenteil verkehrt.

Schade, mein lieber Helder Yuren, dass ich Dir einige – vielleicht unliebsame – Antworten geben muss. Ich wollte, ich hätte vor allem Unrecht!

Des Autors Antwort:

zuviel des lobes im ersten abschnitt, beim gesamturteil „Sehr lesenswert“ kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. aber ein paar kleinigkeiten, eher unklarheiten will ich doch ausräumen.

dass es – wie der kritiker meint – keine antwort auf die frage gebe, wie der übergang zu schaffen wäre, ist eine behauptung, die auf sehr wackeligen füßen steht. habe ich nicht wiederholt auf den modellversuch gedrungen, der in einem möglichst kleinen autonomen staat stattfinden sollte? mit begründungen. das wäre ebenso gewaltfrei möglich wie die alternative: den einbau von sachverständigenkammern als gegengewicht zum parteiklüngel, einbau in das vorhandene system. historisches vorbild: der umbau von der absoluten monarchie in die konstitutionelle. das sind die zwei aufgezeigten wege. der versuch ist in vielen einzelheiten beschrieben.

nach der forderung, die privaten banken generell zu schließen und durch öffentlich-rechtliche, und ich ergänze jetzt, auch durch genossenschaftliche zu ersetzen, erhebt sich die frage des kritikers: aber wie sichern wir die arbeitsfreude und effektivität in allen unternehmungen? hm, frage zurück: was hat die rechtsform eines betriebs mit der freude an der arbeit in demselben zu tun? was mit der effiktivität? ist das arbeitsklima in den genossenschaftsbanken viel schlechter als in den aktionärsbanken? das ist eine echte frage, nicht bloß ein zurückschlagendes argument.

Der kritiker meint, ein thema komme zu kurz im buch: die thematisierung des menschen und seiner eigenschaften, was dem versuch angeblich bedenklich den boden unter füßen wegziehen könnte. dass bisher die machtgeilen, die machtkranken, die machtbesessenen , die machtgierigen den erdenkreis beherrschen, kann ich gar nicht bestreiten. trotzdem hat es öfters experimente und anstalten gegeben, die mit dem regime nicht einverstanden waren. die versuche begannen in der antike und reichen bis in die gegenwart. nach meiner sicht der geschichte sind die umstürze und umwälzungen in den herrentümern eine unvermeidliche folge des gegensatzes von mensch und unmensch. die hominisation geschah, wir wissen nicht genau, wie und warum, in den millionen jahren vor der zivilisation. erst in dieser, in ein paar tausend jahren, kam der homo rapiens rapiens zum zuge, die not der jeweiligen gesellschaft nutzend, den mitmenschen zum nutztier erniedrigend. gegen die andauernde zumutung der herrschaft ist der widerstand das recht der menschen. die machtkranken werden nicht nur nicht gebraucht, sie stören gewaltig. in der utopie wird zumindest der versuch unternommen, das herrschaftserbe ohne nachteile für die gesellschaft abzustreifen. dir schwant nichts gutes dabei, weil der kritiker den kampf mit den rückwärtsmächten als riskant einschätzt. das ist er auch. aber welthistorisch kann mensch nicht anders handeln.

die frage des kritikers: lässt sich das, was die evolution in unsere körper gebrannt hat, ins menschliche richten …? habe ich wenigstens teilweise mit dem vorherigen beantwortet. die evolution hat uns zu menschen gemacht, und zwar aus tieren. die zivilisation hat uns zu unmenschen gemacht, zum glück nicht alle von uns, sondern nur einen teil. die befehlskette vom oberbefehlshaber bis zum schützen mit der arschkarte ist ein beispiel für die re-evolution. die rangordnung in der affenhorde vom alphamännchen bis zum letzten jungtier ist ähnlich streng und kennzeichnend. ich nenne dieses ergebnis der geschichte darum die rebestialisierung des menschen.

Der kritiker meint: die reproduktionskontrolle via elternpass ist grund für die erwartung, dass die einschränkung der freiheit auf massivsten widerstand stoßen dürfte. in frankreich ist es aber schon jetzt etabliert, dass eltern für defizite ihrer kinder auf die matte gebeten und notfalls zu elternkursen verpflichtet werden. das ist nicht meilenweit von den kursen entfernt, durch die künftige eltern einen elternpass erwerben. mir ist nichts bekannt von großen elternprotesten gegen die obligatorischen elternkurse in frankreich.

Die feststellung des kritikers: noch stärkerer widerstand sei zu erwarten, wenn alte traditionen von großer popularität dran glauben müssen wie hahnen- und stierkämpfe, olympia oder die fußball-wm. diese mehr oder weniger ritualisierten und beschiedsrichterten veranstaltungen sind aufs engste mit der alten unordnung verknotet. das regime des unmenschen abzuschaffen, ist das ziel der utopie. und zwar möglichst restlos. keine residuen der reaktionären renitenz dürfen als trostpflaster der ewig vorgestrigen übrig bleiben. schnapslokale etc. inclusive. sowas, sage ich mal, wird schlicht nicht mehr gebraucht. problematisch ist allein die übergangszeit zwischen der alten herrlichkeit der sensationell inszenierten boxkämpfe und der ächtung aller gewalt.

zum plunder der alten unordnung des unmenschen gehört auch der christliche kalender. das urteil des kritikers: „einfach unnötig“ übersieht den kontext. mir verachtung gegenüber den römischen (kalender-) ursprüngen zu unterstellen, ist sachlich unbegründet, denn ich kenne die ursprünge des julianische kalenders und schätze sie. warum sollte ich die fakten verachten? die römer haben den altägyptischen kalender verschlimmbessert. den sonnenkalender teilbeschattet durch abendländisches mondlicht. im klartext: die römer haben dem reinen sonnenkalender, der sehr glatt geschliffen war wie die steine der obeliske, ihre krummen traditionen übergestülpt. das kann man vergleichen mit der nüchternen einrichtung einer reformierten kirche und dem ballast und bombast römischer sakralbauten. das ist also auch eine geschmacksfrage.

angesichts der asozialen schere zwischen arm und reich muss jede politik, die zukunftsfähig sein will, das menschliche maß suchen und finden. besitzakkumulationen aktuellen ausmaßes sind unmenschlich. die oligarchen gehören grundsaniert. Die frage des kritikers: „wie weit will yurén an dieser stelle gehen?“ in dollar oder euro will ich mich nicht festlegen, glaube auch, das gar nicht tun zu müssen. denn die ökologische umgestaltung der wirtschaft allgemein hält nicht die möglichkeit zu schwindelerregendem reichtum bereit. das kann auch gar nicht das ziel der neuen gesellschaft sein.

kritische frage des kritikers zur propagierung relativer gleichheit, nicht bloß in rechtlicher, sondern auch in finanzieller hinsicht: „stirbt da nicht – ähnlich wie in der ex-ddr – jeder ehrgeiz, jede kreativität?“ entschiedenes nein. das sage ich aus langer lebenserfahrung. nicht mit blick auf das vielfach geförderte ehrenamt, sondern in dem wissen, dass die sogenannte mittelschicht der beamten, der akademischen berufe allgemein das rückgrat der gesellschaft bildet. ohne aussicht, jemals zum millionär zu werden. bescheidener materieller wohlstand reicht vollkommen.

Die feststellung des kritikers: „der von yurén ersehnte umbruch ist im grunde genommen auch ein gewaltakt, der aber im unterschied zum herkömmlichen ohne gewaltanwendung vonstatten gehen muss. hier liegt das eigentliche problem.“ keine frage, der übergang ist nicht ohne risiken. den alten verbrechern geht das experiment möglichst aus dem weg. ein kleines land mit geringem entwicklungsstand wird nicht eine menge konkurrenz herbeirufen. wohl dürften gehässige und missgünstige, allem wirklich neuen abgeneigte clicken ihre fühler ausstrecken. wachsamkeit ist eine biologische eigenschaft, die beim umbau der gesellschaft natürlich nicht fehlen darf. herrschaft wird in jedem fall das experiment unmöglich machen wollen. publizistisch, aber auch materiell. andererseits ist vielleicht der eine oder andere milliardär bereit, am versuch teilzunehmen, um sich einen namen zu machen, der womöglich – beim erfolg des projekts – jahrtausende hält.

Schließlich fragt sich der kritiker, wie man die utopische gesellschaftsordnung nennen könnte. utopisch und neu wären keine sehr klangvollen namen, aber das genügt. die große sensation liegt in der zukunft, nicht in der gegenwärtigen spekulation.

zum schluss bedauert der kritiker seine negativen bewertungen und gibt der hoffnung ausdruck, er läge mit seinen urteilen und einschätzungen vorwiegend falsch. und er kommt noch einmal auf den basiseinwand zurück, die nette genetische disposition des menschen. dazu muss ich nur an konrad lorenz und andere biologisten erinnern. lorenz, der nobelpreisträger, schrieb in auflagenstarken schriften über die atomare gefahr, er sehe den neandertaler bewaffnet mit der atombombe und ausgestattet mit dem angeborenen aggressionstrieb. es bedürfte lediglich eines geringen anlasses, und die bombe käme zum knall. und milgram suchte zur selben zeit nach einer erklärung für das niederschmetternde ergebnis seines berühmten experiments und phantasierte das gehorsamsgen zusammen, das dem menschen eine ebenso geringe überlebens-chance ließ wie die bombe in der hand des genetisch zum jähzorn neigenden neandertalers. beide menschenbilder sind längst in der mottenkiste der krummen phantasie gelandet.

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